Beeindruckende Nachkommen und ein etwas pathetischer Autor.
Am 20. Juli 1944 versuchte Claus Schenk Graf von Stauffenberg Hitler zu töten. Das Attentat schlug fehl und Hitler wurde nur leicht verletzt. Doch seine Rache war allumfassend. Die gesamte Widerstandsgruppe um Graf von Stauffenberg wurde festgenommen. Einige, unter ihnen auch von Stauffenberg, wurden sofort erschossen, andere erhängte man qualvoll an Fleischerhaken, nachdem sie in einem Schauprozess unter Richter Roland Freisler schuldig gesprochen wurden. Doch damit nicht genug, Hitler verhängte die Sippenhaft. Die kompletten Familien der Widerstandskämpfer kamen ins Gefängnis oder Konzentrationslager. Die Kinder wurden den Müttern weggenommen und nach Bad Sachsa verschleppt, wo sie in einem Kinderheim verwahrt wurden. Geschwister wurden getrennt, alle Kinder mussten andere Namen annehmen, durften nicht über die Vergangenheit sprechen, bekamen keine Schulausbildung und auch keine sonstige Betreuung. Die Kinder waren damals zwischen einem und sechszehn Jahren alt. Wäre Hitler am 20. Juli gestorben, hätten viele Menschen im finalen Kriegsjahr nicht ihr Leben lassen müssen. In diesen letzten Monaten wurden mehr Menschen getötet als in allen vorherigen fünf Kriegsjahren zusammen.
Ein Fachmann für Biografien
Tim Pröse ist freier Journalist und Autor. Seine Sachbücher behandeln bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, wie Dieter Hallervorden und Mario Adorf oder befassen ich mit Menschen, die Geschichte geschrieben oder miterlebt haben. Pröses Bücher sind in Bestsellerlisten zu finden und wurden auch schon mit Preisen ausgezeichnet. Mit „Wir Kinder des 20. Juli“ lässt er die Töchter und Söhne der Widerstandskämpfer sowie auch zwei direkt Beteiligte erzählen - und setzt damit einen weiteren Meilenstein gegen das Vergessen. Gleichzeitig sind die Berichte der Nachkommen auch Mahnung; denn, wie sie sagen, ist die aktuelle politische Situation abermals sehr brisant.
Interviews mit den „Kindern“
Von Kindern kann natürlich nach 80 Jahren keine Rede mehr sein. Einige hat Pröse über mehrere Jahre immer wieder besucht, andere musste er erst ausfindig machen. Manche sind inzwischen verstorben, auch von den im Buch zu Wort Kommenden. Pröse hat zehn dieser Nachkommen aufgesucht und porträtiert. In vier Kapiteln stellt er sie zuerst einmal vor und gibt dann Interviews wieder, die er mit ihnen geführt hat. Auch mit zwei noch lebenden direkt Beteiligten am Widerstand konnte Pröse noch sprechen. Ihnen widmet er ein eigenes Kapitel. Im Mittelteil des Buches befinden sich eine Reihe von Fotografien, die das Gesagte fassbarer machen, aber leider nicht alle Interviewten oder ihre Väter abbilden.
Zu viel Pathos schadet dem Erzählten
Schon im Prolog wird klar, dass Pröse nicht sachlich bleiben wird. Immer wieder schwingt ein Pathos mit, der den Schilderungen der Nachkommen nicht gerecht wird. Diese Schilderungen sind fesselnd und gleichzeitig beschämend. Wenn man lesen muss, dass die Kinder der Widerstandskämpfer im Nachkriegsdeutschland diffamiert, ihre Väter als Verräter bezeichnet wurden, kann man es kaum fassen. Die Trennung von den Müttern und anderen Familienangehörigen sowie die Verschleppung nach Bad Sachsa hat bei allen ein Trauma hinterlassen, obwohl Jeder und Jede, aufgrund des Altersunterschiedes, diese Zeit etwas anders erlebt hat. In den Nachkriegsjahren haben alle unterschiedliche Wege eingeschlagen, wobei von einer staatlichen Unterstützung oder gar Wiedergutmachung nicht die Rede sein kann.
Diese Lebensläufe sind gerade in der Zeit nach dem 20. Juli 1944 dramatisch. Emotional wird es bei den Schilderungen der Beziehungen zu den ermordeten Vätern oder der fehlenden Erinnerung an sie. Doch selbst, wenn die Kinder noch viel zu klein waren, um den Verlust des Vaters überhaupt zu realisieren, beeinflusste dieser ihr Leben nachhaltig. Hier wirkt die oft sehr pathetische Haltung Pröses eher wie ein Misston als eine Anerkennung. Der Begriff „Held“ wird von ihm öfters bemüht, ohne zu erklären, was er für Pröse bedeutet. Ist nur der ein Held, der von der Öffentlichkeit bemerkt Großes leistet? Fallen damit alle unter den Tisch, die im Verschwiegenen und mit kleinen Gesten Widerstand geleistet haben? Auch muss man nicht unbedingt lesen, wann der Autor in Tränen ausbricht oder sich, so kam es mir vor, fast schon anbiedernd verhält. Auch die allen Interviewten gestellte Frage, ob sie an ein Wiedersehen mit dem Vater glauben, ist doch sehr unsachlich, auch wenn viele der Väter im christlichen Glauben fest verwurzelt waren.
Ein Buch mit kleinen Schwächen
Dieses Buch war unbedingt nötig! Allerdings ist der Autor ein Schwachpunkt, der ihm nicht guttut. Zum Glück kommen die Nachkommen der ermordeten Väter genügend selbst zu Wort und können ihre Vergangenheit und ihre Wahrnehmung der Gegenwart schildern. Alle gehen anders mit ihrem Schicksal um, doch eint sie der 20. Juli, an dem sie sich immer in Plötzensee oder im Bentlerblock in Berlin treffen, um der Väter zu gedenken, die hier umgebracht wurden. „Wir Kinder vom 20. Juli“ ist aber auch eine Mahnung an uns, die Demokratie nicht als selbstverständlich zu nehmen, gerade in der jetzigen Zeit, die Viele in manchem an den Beginn der Nazi-Herrschaft erinnert.
Fazit
Ein Buch, das Geschichte beschreibt und gleichzeitig Mahnung ist. Leider hat Autor Tim Pröse einen wenig sachlichen Ton gewählt, der meiner Meinung nach den Lebensgeschichten der „Kinder des 20. Juli“ nicht immer angemessen ist. Dennoch ist das Buch lesenswert, denn die „Kinder“ kommen oft genug selbst zu Wort und lassen uns an ihrer Vergangenheit teilhaben.
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