Ein informativer und kurzweiliger Blick auf die deutsche Kolonialgeschichte
Bartholomäus Grill war viele Jahre Korrespondent beim Spiegel und der Zeit. Sein Faible gilt Afrika, nicht zuletzt, weil er mit der (idealisierten) Kolonialgeschichte dieses Kontinents aufgewachsen ist. Jetzt versucht er eine neutrale Aufarbeitung dieses Themas, wobei die Frage, wie „tolerant, weltoffen und frei von Vorurteilen“ wir wirklich sind oder ob wir „die alten kolonialen Denkmuster“ vielleicht doch noch nicht ganz abgelegt haben zentral ist.
„Die Schatten der Geschichte sind länger als gedacht“
Gerade in den letzten Jahren ist die Kolonialzeit in der deutschen Geschichte wieder mehr in das Bewusstsein der Menschen getreten. Immer mehr ehemalige „Schutzgebiete“ fordern die Rückgabe von wichtigen Kulturgütern oder Entschädigung für erlittenes Leid. Wie Grill ausführt, ist diese Zeit im kulturellen Gedächtnis Deutschlands weniger präsent; die beiden Weltkriege und vor allem der Nazi-Terror überlagern die Erinnerung an die Kolonialzeit Deutschlands in Afrika und Asien, die zudem kaum Erwähnung im heutigen Geschichtsunterricht an den Schulen findet.
Grill verbindet geschickt die Vergangenheit mit der Gegenwart, indem er von unzähligen Reisen, Gesprächen und Nachforschungen in diesen Gegenden erzählt. Er untersucht die Rolle der Deutschen in den ehemaligen afrikanischen und asiatischen Kolonien, blickt auf den enormen Einfluss der Kirchen während des damaligen Geschehens und fragt sich, warum Deutschland dort teilweise noch heute eher positiv gesehen wird.
Immer wieder verbindet er diese Gedanken und Erlebnisse mit der Frage nach dem Umgang und der Aufarbeitung dieses doch sehr aktuellen Themas in Deutschland. Er beschäftigt sich mit den Problemen der Restitution genauso, wie mit der Entschädigungszahlung an die Herero in Namibia, wobei er sich in diesem Zusammenhang sehr ausführlich mit dem Begriff „Völkermord“ auseinandersetzt. Immer wieder ruft er die Frage nach dem ganz persönlichen Umgang mit diesen Themen der Leserschaft ins Gedächtnis, die er für die doch sehr problematische Zeit in der deutschen Geschichte und ihre aktuelle Aufarbeitung sensibilisieren will.
Eigene Reflektion ist angebracht
Grill sagt selbst, „wir waren und sind Gefangene des kolonialen Blicks“. Doch dieser Blick wird je nach Sichtweise geprägt – sieht man diese Zeit als abgeschlossenes Kapitel der Vergangenheit oder eher als noch aufzuarbeitendes und aktuelles Thema an.
Grill versucht neutral zu bleiben, schafft es aber nur bedingt. Der Leser sollte somit immer bereit sein, sich eigene Gedanken zu machen und auch die Äußerungen des Autors in Frage zu stellen - gerade beim Thema des Genozids an den Herero scheint mir das angebracht. Dennoch schafft Grill das wenig bekannte Thema der deutschen Kolonialgeschichte kurzweilig und sehr gut verständlich darzustellen. Selbst wenn man sich schon damit beschäftigt hat, ist das vorliegende Buch interessant. Es zeigt deutlich das geschichtliche Erbe dieser Zeit, das wir oft nicht wahrnehmen, wie z.B. der Umgang mit der Beutekunst zeigt.
Erst die Restitutionsfrage der Benin-Bronzen oder die Eröffnung des umstrittenen Humboldtforums in Berlin hat dieser Problematik eine Öffentlichkeit gegeben. Auch die oft unbewusste Integration fragwürdiger Relikte aus der Kolonialzeit in unser Leben (ich sage nur „Mohrenapotheke“) wird durch die Lektüre noch einmal deutlich ins Bewusstsein gerufen.
Dabei sind die in den Text eingestreuten Bilder zwar kleinformatig, geben aber einen guten Einblick in die damaligen Verhältnisse. Sie lassen aus Namen Personen werden oder zeigen Örtlichkeiten, die wohl kaum bekannt sein dürften. Ein Literatur- und Bildverzeichnis im Anhang und zwei Karten zur Lage der ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika und Asien in den Buchdeckeln runden die ausführlichen Informationen ab.
Fazit
„Wir Herrenmenschen“ ist ein längst überfälliges Buch zur deutschen Kolonialgeschichte. Bartholomäus Grill informiert populärwissenschaftlich aufgearbeitet über diese, vielen wenig bewusste Zeit und verbindet die Vergangenheit geschickt mit der Gegenwart. Jedoch sollte man keine Neutralität in den Betrachtungen erwarten und zur eigenen Reflektion bereit sein. Das Buch gibt zwar viele Informationen, die aber vor allem als Gedankenanstoß und Diskussionsgrundlage dienen sollten.
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