Mr. Sandman, Bring Me a Dream …
Sie stellen uns vor Rätsel, können uns beleben, erfreuen, erregen, erschrecken, und sind doch am nächsten Morgen oft so schnell zerronnen wie Sand durch die Finger: Träume. Seit jeher haben verschiedene Kulturen und Epochen ebenso verschiedene Ansichten darüber vertreten, was sie sind – und damit belegt, dass Menschen seit jeher träumen. Sind die nächtlichen Projektionen auf unserer inneren Leinwand prophetische Visionen? Ausdruck unserer unterbewussten Konflikte, Ängste, Sehnsüchte? Versuche unseres Hirns, Erlebtes zu verarbeiten? Oder einfach nur die nichtigen Irrungen und Wirrungen eines unbeaufsichtigten Verstandes? Was uns darin unterkommt, reicht von zutiefst furchterregend über wunderschön bis hin zu schlichtweg bizarr, und vielleicht hat gerade diese schwer greifbare Vielfältigkeit bislang verhindert, dass die Wissenschaft zu einer abschließenden Übereinkunft das Wesen von Träumen betreffend kommen konnte. Fundierte Theorien aber gibt es natürlich en masse. In Warum wir träumen trägt Dr. Rahul Jandial einige davon zusammen und geht der Frage nach, welchen Erkenntnisgewinn wir aus Träumen für unser Leben im Wachzustand ziehen können.
„Schlaf hat seine Welt
Und weite reiche wilder Wirklichkeit,
Enthüllte Träume haben Atem,
Tränen und Folterqual und freudiges Gefühl;
Sie geben ein Gewicht den Taggedanken,
Sie nehmen fort die Last der Tagesmühen.“
– Lord Byron
Jandial, Jahrgang 1972 und heute in L.A. wohnhaft, ist seines Zeichens Hirnchirurg und Neurowissenschaftler. Neben Auszeichnungen und der Publikation zahlreicher wissenschaftlicher Schriften in den Bereichen Krebsforschung und Neurochirurgie hat er zudem die „International Neurosurgical Children’s Association“ ins Leben gerufen und arbeitet gelegentlich als Korrespondent und Berater fürs Fernsehen. Seine erste Monographie Life Lessons from a Brain Surgeon avancierte 2019 zum Bestseller. Mit Warum wir träumen schlägt er nunmehr eine leicht anders gelagerte Richtung ein.
„Je mehr wir über die Neurowissenschaft des Träumens lernen, desto mehr erfahren wir über das Potenzial unseres Körpers und unseres Geistes, das nur Träume offenbaren und freisetzen können“
Das Thema Träume scheint auf Jandial eine besondere Faszination auszuüben, und dies verleiht seinen Ausführungen nicht nur einen philosophischen Anstrich, sondern auch eine charismatische persönliche Note, die den Funken auf die Leserschaft überspringen lässt und sehr zu dem Themengebiet passt. Der Autor streift fast alle Felder der Traumforschung, führt Erklärungsansätze zur Entstehung von Traumbildern an, erklärt, warum der Inhalt erotischer Träume nur selten das ist, was es auf den ersten Blick scheint, nennt die Funktion von (Alb-)träumen für die psychologische Entwicklung, zeigt Querverbindungen zwischen dem wachen und dem träumenden Geist auf und legt Rückschlüsse dar, welche Träume auf unseren physischen Gesundheitszustand zulassen. Besonders interessant (vermutlich da Jandials Spezialgebiet) gelingen die Erläuterungen zur Hirnstruktur: So ist im Traum das Imaginationsnetzwerk aktiv, während das rationale Exekutivnetzwerk ausgeschaltet wird. Dies verleiht den Träumen ihre willkürliche, mäandernde, assoziativ-sprunghafte Natur – eine Form des Denkens, zur der wir in dieser Form wach nicht in der Lage sind, obwohl ihr immenses kreatives Potenzial innewohnt.
„Uns in unsere Träume zurückzuziehen, kann unseren Horizont auf eine Weise erweitern, wie es in der gelebten Erfahrung nicht möglich wäre“
Natürlich darf auch ein Abschnitt zum luziden Träumen nicht fehlen – der Art von Traum, in der das Bewusstsein der Träumenden sich über den eigenen aktuellen Zustand im Klaren ist, sodass sie das Traumgeschehen willentlich beeinflussen und steuern können. Jandial versucht sich an einer Anleitung, an deren Anspruch zur Umsetzbarkeit man allerdings keine allzu hohen Erwartungen stellen sollte. Ähnlich verhält sich dies bei den Handlungsempfehlungen dafür, wie man sich öfter an die eigenen Träume erinnert, wobei die Erfolgsaussichten bei dieser Form des inneren Ausrichtens erfolgversprechender erscheinen.
Spannend ist das letzte Kapitel, welches über das Zukunftspotenzial von Träumen sinniert – denn es gibt bereits Präzedenzfälle dafür, dass Träume mit fortschreitender Technik für Werbekampagnen und Marketingvorhaben ausgeschlachtet werden können, obwohl dies fast selbst wie der Stoff klingt, aus dem Albträume sind.
Vor einem anregenden Schlusswort darf natürlich noch eine Sektion zum Thema Traumdeutung nicht fehlen. Hier vermittelt Jandial nur einen kleinen Überblick, aber gleichzeitig sein hauptsächliches Anliegen: Träume sind nicht nur emotional intensiver, als wir die Realität erfahren, sondern ist ihr Gehalt auch höchstpersönlich und individuell – weshalb nur die Träumenden ihre eigenen Träume und deren Bedeutung für sich selbst korrekt interpretieren und erschließen können, was Selbsterkenntnisfähigkeiten fördert.
Fazit
Warum wir träumen ist ein interessanter populärwissenschaftlicher Streifzug durch unser nächtliches Innenleben. Hier und da fehlt es ein wenig an Ausschmückung mit Bildmaterial oder weiteren Fallbeispielen, und der Aufbau wirkt nicht immer stringent. Dr. Rahul Jandials Stil allerdings vereint Ausstrahlung, Informationen und Unterhaltung professionell miteinander und lädt einnehmend zur Reflektion über das eigene Traumgeschehen ein.
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