Verloren im ewigen Eis

  • Malik
  • Erschienen: September 2001
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Michael Drewniok
9101

Sachbuch-Couch Rezension vonNov 2024

Wissen

Dieses Buch ist sichtlich das Ergebnis ausgiebiger Recherchen, die ein auch sonst mit dem Thema vertrauter Autor auch für Laien lesenswert umgesetzt hat.

Ausstattung

Eine Anzahl gut ausgewählter Bilder unterstützt die Aussagekraft des Textes.

Ein Hitzkopf erfährt die eiskalte Realität.

Im Jahre 1845 laufen in England zwei Schiffe aus: Sir John Franklin, Held zahlreicher Entdeckungsreisen, will die sagenhafte Nordwestpassage finden, die angeblich quer über den Norden des nordamerikanischen Kontinents verläuft und in den Pazifik mündet. Ein natürlicher Kanal würde die Reise zu den lukrativen Geschäftsgründen Asiens um einiges verkürzen. Neben handfeste wirtschaftliche Gründe treten patriotische Erwägungen: Die Briten beherrschen die Weltmeere, ihr Empire breitet sich über den Globus aus, deshalb stellen sie auch die tüchtigsten und fähigsten Forschungsreisenden - punktum! Viel zu lange wurde nach der Nordwestpassage gefahndet; Franklin soll sie nun gefälligst finden!

Es kommt anders. Mit der „Erebus“ und der „Terror“ verschwinden mehr als einhundert Menschen im Dunkel der nordpolaren Gewässer. Zwischen 1848 und 1853 machen sich mehr als dreißig Suchmannschaften in die nordamerikanische Polarwüste auf. Auch in den USA verfolgt man die Suche aufmerksam. In Cincinnati im US-Staat Ohio lebt der erfolgreiche Geschäftsmann und Verleger Charles Francis Hall. In ihm brodelt schon lange das Fernweh. So führt er nach 1860 zwei Expeditionen an, die ihn jeweils über mehrere Jahre in den äußersten Nordosten des nordamerikanischen Kontinents führen. Aus dem enthusiastischen, aber unerfahrenen Abenteurer wird ein erfahrener Reisender, der begreift, dass man nicht gegen, sondern mit der Natur leben muss. Hall lernt von den Ureinwohnern. Er unternimmt ausgedehnte Fahrten über das Eis, findet die Relikte früherer Polarforscher, aber niemals eine Spur der Franklin-Expedition.

Trotz seiner scheinbaren Weltoffenheit wird Hall kein echter Bewohner des Nordens. Er kann und will nicht von seiner Frömmigkeit und seinem Hochmut ablassen. Sein ungestümes Temperament bringt ihn immer wieder in gefährliche Situationen, wobei er sich zu sehr auf die Gunst des Schicksals verlässt. Selbst sieht er sich als Bezwinger des Ewigen Eises und fasst er ein neues, wahnwitziges Ziel ins Auge: Er will als erster Mensch den Nordpol erreichen! Auf der „Polaris“ beginnt 1871 eine Reise ins Herz der Finsternis, die in Streit, Wahnsinn, Schiffbruch und womöglich Mord enden und die Überlebenden für den Rest ihres Lebens zeichnen wird ...

Das Ergebnis intensiver Spurensuche

„Verloren im Ewigen Eis“ ist ein Sachbuch im besten Sinn dieses Wortes: Wissen wird dem Leser in verständlicher Form präsentiert, ohne dass Fakten ‚vereinfacht‘ oder gar gestrichen würden. Chauncey Loomis (1930-2009) war auf seine Weise selbst ein Besessener vom Schlage Halls, dessen Schicksal ihn über Jahrzehnte beschäftigte. „Verloren ...“ ist sichtlich das Resultat langwieriger und penibler Recherchen, kein Schnellschuss auf der Jagd nach dem Buchmessen-Bestseller der Saison.

Der Verfasser hat viel Zeit in diversen Archiven verbracht. Als Dozent für englische und amerikanische Literatur wusste er, wie und was er zu suchen hatte. Aber er klebte nicht an seinem Schreibtisch, sondern hat im Laufe der Jahre viele der Orte, die Hall einst bereiste, selbst besucht. Letztlich ist er dem Subjekt seiner Recherchen buchstäblich bis ins Grab gefolgt.

So wurde „Verloren ...“ ein zeitloses Sachbuch-Kleinod. Halls Erlebnisse werden in die Geschichte des 19. Jahrhunderts eingebettet. Vor diesem Hintergrund werden viele Entscheidungen und Fehler klar, die uns heute fremd erscheinen, denn die Welt vor 150 Jahren folgte eigenen, längst vergangenen Regeln. Mit spielerischer Leichtigkeit (die definitiv das Ergebnis harter Arbeit ist) verbindet Loomis Fakten, Erläuterungen und Anekdoten zu einem echten Pageturner.

Sicher auf Kurs im Meer der Fakten

Er hatte Glück: Hall war ein eifriger Tagebuchschreiber. Souverän zeigt sich Loomis der Informationsflut gewachsen. Er zitiert nicht einfach, sondern wählt aus, prüft nach und interpretiert dort, wo es ratsam erscheint. Außerdem verschweigt er nicht jene Passagen, die kein gutes Licht auf ihren Schreiber werfen. Es ist eigentlich eine bekannte Tatsache, dass berühmte Entdecker auf Reisen oft wenig von der menschlichen Größe an den Tag legten, die sie sich selbst in ihren Büchern bescheinigten oder die ihnen bewundernde Zeitgenossen und Nachfahren unterstellten.

Dabei nahmen sie durchaus kein Blatt vor den Mund und vertuschten ihre (Un-) Taten erst selbst in später sorgfältig zensierten ‚offiziellen‘ Aufzeichnungen. Hall war keine Ausnahme. Kluger Kopf, aber ungebildet, wie er war, hielt er unfreiwillig geradezu exemplarisch fest, wie die ‚Forscher‘ seiner Zeit über die unglücklichen Einheimischen kamen, ihnen Krankheiten, Alkohol oder die zweifelhaften Segnungen der christlichen Religion brachten, ihre Gräber plünderten, sie ohne Skrupel als lebendige Ausstellungsobjekte in die Fremde verschleppten sowie ganz selbstverständlich voraussetzten, dass die „Wilden“ sie in gefährliche Regionen führten und dabei noch bedienten.

„Verloren ...“ ist die erweiterte, aktualisierte Neuausgabe eines Buches, das zum ersten Mal 1971 erschien. Loomis tat gut daran, die Forschungsergebnisse der seither verstrichenen Jahrzehnte zu berücksichtigen, denn in dieser Zeit konnten einige damals notgedrungen offene Fragen geklärt werden. In der Frage, ob Charles Hall nun ermordet wurde oder einem Unfall zum Opfer fiel, legt sich der Autor (zum Kummer seines Lektors) weiterhin nicht fest. Die Indizien reichten für eine endgültige Entscheidung nicht aus, und Loomis ist redlich genug, historische Genauigkeit vor marktschreierische Werbewirksamkeit zu setzen.

Dieses Wiedersehen machte keine Freude

Mut beweist der Verlag mit der Wahl des Titelbildes. Wir sehen dort den kühnen Forscher Hall im Porträt gewürdigt; dies allerdings nicht als zeitgenössisches Foto oder Kupferstich, sondern so, wie er 1968 vorgefunden wurde, als ihn die von Wissbegier durchdrungenen Nachfahren aus seinem eisigen Grab hoben - als verweste Leiche, deren Anblick selbst den (medien-) horrorerfahrenen Kindern des 21. Jahrhunderts schlaflose Nächte bereiten könnte.

Hall starb 1871 noch während der Vorbereitungen seiner Nordpolfahrt auf der Eisinsel Grönland, wo er begraben liegt. Er hatte sich bereits so verhasst bei denen gemacht, die ihn eigentlich unterstützen sollten, dass schon früh gemunkelt wurde, man habe ihn aus dem Weg geräumt, bevor er sich und seine Begleiter ins Unglück führen konnte. 97 Jahre später wurde Loomis die Exhumierung der Leiche genehmigt. Das Eis hatte sie nicht erhalten. Nur Knochen, Haare und Nägel konnten geborgen und untersucht werden. Man stellte einen hohen Arsen-Anteil fest, doch die giftige Substanz war einst Bestandteil zahlreicher Medikamente, die auch an Bord der „Polaris“ zu finden waren. So musste die Todesursache offen bleiben. Die Schilderung der schaurigen Leichenbergung sorgt nichtsdestotrotz für angenehme Lektüre-Schauer.

Die Zukunft könnte scheinbar verschwundene Indizien offenbaren. Chauncey Loomis war bereits verstorben, als kurz nacheinander - 2014 und 2016 - die Wracks der Franklin-Schiffe „Erebus“ und „Terror“ versunken im Polarmeer entdeckt und untersucht wurden. Späte bzw. informationsträchtige Überraschungen sind also möglich.

Fazit

Weiterhin den Stand der Erkenntnisse dokumentierende Biografie eines Polarforschers und Entdeckers, der im Positiven wie im Negativen seine Herkunft und seine Zeit repräsentierte. Über die Fakten geht der Autor hinaus, indem er die Ära seines ‚Forschungsobjekts‘ aufleben lässt und dessen Leben und Wirken dort einordnet: Geschichte ist spannend; vor allem, wenn sie so kundig und lebendig erzählt wird wie hier.

Verloren im ewigen Eis

Chauncey Loomis, Malik

Verloren im ewigen Eis

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