Uhrwerke
- C.Bertelsmann
- Erschienen: Oktober 2024
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Winzig, aber allgegenwärtig.
Die Zeit ist unsere ständige Begleiterin; oft hetzt sie uns, und vor allem in erfreulichen Lebensmomenten eilt sie uns davon. Das fühlen wir, und wir sind in der Lage, sie buchstäblich zu messen. Der Blick auf die Uhr - heute in der Regel eine Handy-App unter vielen - ist für uns selbstverständlich, denn da in der Regel jemand auf uns wartet, wollen wir wissen, wieviel Zeit uns bleibt, ihn oder sie zu erreichen.
Wie so oft denken wir selten oder gar nicht darüber nach, wieso wir so handeln - und seit wann. Die Uhr scheint uns zu begleiten, seit es uns Menschen gibt. So ist es natürlich nicht. Die ersten Jahrhunderttausende unseres irdischen Daseins beschränkte sich das Empfinden der Zeit auf den täglichen Wechsel von Tag und Nacht. In einer Epoche höchstens fackelbeleuchteter Dunkelheit besaß diese eine Macht, die uns noch heute prägt: Wenn wir des Nachts einen Wald betreten und es im Unterholz zu rascheln beginnt, ist uns urplötzlich wieder sehr bewusst, dass „Dunkelheit“ und „Gefahr“ einmal deckungsgleiche Begriffe waren.
In der nördlichen Hemisphäre sorgten die Jahreszeiten für zusätzliche Eckpunkte des Zeitempfindens. Der Mond steht nicht wie angenagelt am Himmel. Alle 29 Tage schwillt er zuverlässig zum Vollmond an und schrumpft zum Neumond zusammen. Diese Spanne prägte auch das erste ‚Instrument‘ zur Zeitmessung: Vor 44000 nahm jemand ein Knochenstück aus dem Wadenbein eines Pavians und versah es mit 29 Kerben: Der Lebombo-Knochen gilt (derzeit) als ältester Zeitmesser - und er wurde eifrig benutzt, wie man ihm ansehen kann!
Die Zeit macht kurzen Prozess mit solchen Funden. Nur zufällig bleiben sie erhalten, und zwischen einzelnen Artefakten klaffen breite Erkenntnislücken, je weiter man zurückschaut. Eine Geschichte der Uhr und damit der Zeitmessung, wie sie Rebecca Struthers versucht, muss in ihren Anfängen rudimentär bleiben; ein Phänomen, das irgendwann ins Gegenteil umschlägt, als die Belege so dicht werden, dass ausgewählt und vereinfacht werden muss. Beide Herausforderungen hat die Autorin gemeistert und auf 350 Seiten ein abstraktes, womöglich trocken-langweiliges Thema mit Leben gefüllt.
Ein Leben im Dienst der messbaren Zeit
Struthers und ihr Gatte Craig (der die zahlreichen filigranen Zeichnungen zu diesem Band beitrug) sind Uhrmacher mit Leib und Seele. Seit Jahrzehnten widmen sie sich diesem Handwerk, das auf der Liste der aussterbenden Berufe steht: Moderne Uhren sind so simpel und kostengünstig, aber so präzise, dass sich eine Reparatur nicht lohnt. Sie werden entsorgt, und ein neuer Zeitmesser wird angeschafft.
Allerdings gibt es seit jeher Uhren, die es wert sind gewartet oder restauriert zu werden. Struthers führt uns nicht nur die Uhr als Instrument vor Augen, sondern ordnet sie in die Geschichte ein, wo sie vor allem im soziokulturellen Umfeld ihren Platz einnimmt. In der griechischen und römischen Antike waren Uhren Statussymbole, die sich nur die Reichen und Mächtigen leisten konnten. Der technische Fortschritt ließ sich Zeit, bis im Mittelalter eine neue Evolutionsstufe erreicht wurde: Uhren, die zuvor nur in Kirch- und Rathaustürmen Platz fanden, wurden immer kleiner und (vergleichsweise) kostengünstig, weshalb sich nun auch der leidlich wohlhabende Durchschnittsbürger ein Exemplar zulegte.
Die Zeit wurde zur Richtschnur des Alltags. Tag und Nacht zerfielen nun in 24 mal 60 Minuten, die den Takt des Lebens vorgaben. Wann musst du morgens aufstehen bzw. deine Arbeit beginnen? Wann darfst zu Feierabend machen? Wie viele Pausen stehen dir zu? Dies waren Fragen, die erst recht bedeutend wurden, als die Industrielle Revolution zur Fabrikarbeit führte. Genau definierte Arbeitsfelder korrespondierten mit präzisen Zeitvorgaben. Die Kirchturmuhr wurde von der Fabriksirene ersetzt.
Ständiges Schrumpfen bei steigender Bedeutung
Die Uhr entwickelte sich dank genialer Handwerker und Künstler, die Struthers uns exemplarisch vorstellt, kontinuierlich weiter. Ihr Innenleben schrumpfte auf kaum vorstellbare ‚Größe‘, wurde aber gleichzeitig immer komplexer. Ursprünglich konnten Uhren nur den Stundenverlauf anzeigen. Dann kam der Minuten- und schließlich der Sekundenzeiger. Das Tagesdatum war irgendwann ebenfalls kein Problem mehr. Parallel dazu nahm die Ganggenauigkeit zu. Bald zogen sich Uhren notfalls selbst auf; ihr Besitzer musste nur den Arm bewegen. Die Erde dreht sich mit anderen Planeten um die Sonne? Auch dies konnte auf Wunsch abgebildet werden. Aus einer Uhr wurde ein Präzisionsinstrument, dessen Leistungsspektrum durch aufwändiges Handwerk in Gold und Silber, den Besatz mit Diamanten und Perlen und ein unendliches Spektrum weiterer Aufwertungsmöglichkeiten ergänzt wurde.
Die Geschichte der Zeitmessung ist ein Auf und Ab, das Struthers spannend nachzeichnet. Im 19. Jahrhundert wurde die Uhr zur kostengünstigen Industrie- und Massenware. Wer dies verschlief, geriet in Schwierigkeiten. Struthers zeichnet nach, wie die auf Luxusuhren spezialisierten Uhrmacher Englands aufgeben mussten. Zwar gab es weiterhin ein Interesse an wertvollen Uhren, doch dies blieb nunmehr eine Nische. Die Zukunft gehörte dem Industrieprodukt, das günstig und robust auch die Soldaten in zwei Weltkriegen begleitete.
Das Ende der mechanischen Uhr kam nach dem Zweiten Weltkrieg. Uhrwerke konnten nun elektrisch und über winzige Batterien angetrieben werden. Dann benötigten sie keine Zifferblätter mehr, und schließlich wurden sie digital und bekamen die aktuelle Zeit per Funk von einer zentralen Atomuhr gemeldet, die praktisch weder vor- noch nachgehen kann. Die Uhr überlebte, findige Hersteller machten aus der Not eine Tugend und stellten Billig-Uhren her, die zu Mode-Ikonen stilisiert und begehrte Sammelobjekte wurden.
Turbulenz und stiller Winkel
Da die Evolution der Uhr in den letzten Jahrzehnten an Tempo zunahm, wurden beide Struthers zu Zeitzeugen. Sie begannen ihr Handwerk in einer Zeit, als die Ausbildung lang und hart war, denn damals wurden ‚normale‘ Uhren noch repariert. Dieses Buch ist auch biografisch. Die Struthers gerieten in den Sog einer Entwicklung, die ihnen einen langen Atem abforderte. Sie wollten Uhrmacher sein und sich auf die mechanischen und antiquarischen Exemplare dieser Handwerkskunst konzentrieren. Dafür mussten sie lange Jahre beruflicher Unsicherheit und Rückschläge hinnehmen: Sie mögen heute als Koryphäen gelten, aber dafür zahlten sie ihren Preis und können sich keineswegs in Sicherheit wiegen.
Im letzten Drittel dieses Buches schieben sich die Struthers in die historische Darstellung, weil sie wie gesagt selbst Teil einer Szene geworden sind, die auf vielen Hochzeiten tanzen muss. Wir erfahren, dass eine alte, aber (ihrem Eigentümer) wertvolle Uhr oft über Jahre in der Werkstatt bleibt. Uhrwerke wurden lange von Spezialisten hergestellt. Es gibt keine Ersatzteile, die deshalb händisch nachgefertigt werden müssen. Die Autorin stellt uns ausrangierte Drehbänke und Präzisionsmaschinen aus aller Welt vor, die sie und ihr Mann in vielen Jahren zusammengetragen und notfalls umgebaut haben, um oft nur Millimeter messende Teile zu formen.
Glück wird nicht zwangsläufig durch Geld und Besitz zu definiert. Struthers beschreibt geradezu lyrisch, wie sie es liebt, wenn eine ‚tote‘ Uhr nach und nach unter ihren Händen (und Präzisionsinstrumenten) wieder zum ‚Leben‘ erwacht. Dies klingt weder weltfremd noch verschroben, sondern definiert nachvollziehbar eine Tätigkeit, die ungeachtet der daraus resultierenden Schwierigkeiten sprichwörtlich lebenserhaltend ist: Struthers geht auch auf ihre MS-Erkrankung ein, der sie an ihrer Werkbank erfolgreich entkommt. Hinter Technik und Mechanik, dann Elektrizität und Digitalität stecken immer Menschen. Wenn man weiß, wie man an ein Thema herangeht, wird es greifbar und interessant - selbst dort, wo es möglichst keine Erschütterungen geben sollte, weil Menschen sich über staubflockenkleine Metallteilchen beugen!
Fazit
Der historische Überblick wird ergänzt durch biografische Einschübe, denn die Autorin ist „vom Fach“ und kann sich auf beträchtliches Fachwissen stützen. Das Darstellungskonzept ist durchdacht, der Text ungeachtet uhr-spezifischer Fakten lesbar, die Bebilderung dort eine Erklärung, wo die Worte doch zu komplex werden: Geschichte ist interessant, wenn sie sich allgemeinverständlich an möglichst viele Leser richtet!

Rebecca Struthers, C.Bertelsmann
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