Eine Stadt als Brennglas technologischer und gesellschaftlicher Entwicklungen
Frank Sieren ist ein deutscher Journalist, der seit 27 Jahren in Peking lebt, und sich vor allem durch seine Berichterstattung über die Volksrepublik China in deutschen Zeitungen und Magazinen einen Namen gemacht hat. Neben seiner journalistischen Arbeit hat der Politikwissenschaftler knapp ein Dutzend Bücher veröffentlicht, die sich überwiegend mit der Entwicklung der chinesischen Wirtschaft und ihrer weltweiten Expansion befassen. In seinem neuen Werk “Shenzhen” nimmt er die rund 20 Millionen Einwohner zählende Mega-City in der südchinesischen Provinz Guangdong in den Blick.
Sieren beginnt sein Vorwort mit der Bemerkung, durch die Entwicklung der letzten Jahre sei im Grunde das 8,5 Millionen Einwohner große Hongkong die Vorstadt von Shenshen geworden, obwohl die ehemalige britische Kronkolonie viel bekannter sei. Schließlich habe Shenshen nach Shanghai und Peking die drittgrößte Wirtschaftskraft in China, seine Börse sei wertvoller als die in London, der Hafen viermal größer als der von Hamburg. Was hat es also mit dieser aufstrebenden Metropole auf sich? Das erläutert der Autor in acht Kapiteln, die alle einem speziellen Thema gewidmet sind. Warum man sich diese Stadt gerade jetzt, mitten in der weltweiten Pandemie, anschauen sollte, erklärt Frank Sieren ausführlich in seinem starken Vorwort, das den Leser richtig neugierig auf die Recherche-Ergebnisse des versierten Journalisten macht.
“Das Wirtschaftswachstum in der Stadt legt sogar um 3,2 Prozent zu. London, die größte und schillerndste Stadt Europas, verzeichnet hingegen ein Minus von 9,9 Prozent. Wenn man also zu Beginn des zweiten Coronajahres nach einem Zentrum der globalen Machtverschiebung sucht, dann ist man in Shenshen gut aufgehoben.”
Im Kapitel “Wohnen” schreibt Sieren über Menschen, die selbst entscheiden wollen, wo sie leben und arbeiten. Dann geht es um “Bewegen”, also alle Fragen der aktuellen und künftigen Mobilität. Etwas länger und naturgemäß ziemlich kritisch ist das Kapitel “Überwachen” - gerade in China ein unvermeidbares Thema, verbunden mit technologischen Experimenten, die der Autor gut einordnet.
Von Menschen in den Nischen der Subkultur berichtet das Kapitel “Chillen”. Es folgen “Vernetzen”, “Assistieren”, “Heilen” und schließlich “Essen”. Der große Vorteil dieser klugen Kapitel-Einteilung liegt auf der Hand. Man kann sich als Leser/in die besonders interessanten Abschnitte herauspicken, und sich das gesamte Thema nach und nach erschließen. Oder man lässt sich auf einen Spaziergang mit dem Autor durch die verschiedenen Ansichten dieser so überaus faszinierenden Stadt ein - und wird dabei zu keinem Moment enttäuscht.
Leser nehmen förmlich an Gesprächen mit vielen Menschen teil
Die Kombination Politikwissenschaftler und Journalist führt in meinen Augen sehr häufig dazu, dass der jeweilige Autor gute Bücher schreiben kann. Das ist bei Frank Sieren auf jeden Fall auch gegeben. Seine Bücher sind immer aufwändig recherchiert, das merkt man bei “Shenshen” ganz besonders. Der Autor ist mehrfach in die Stadt gereist, hat mit Restaurant-Betreibern, Architekten, Unternehmern, Start-up-Mitarbeitern und vielen anderen Menschen gesprochen. Sieren lässt die Leser an diesen Gesprächen teilhaben, aber er liefert dann in regelmäßigen Exkursen auch enormes Hintergrundwissen, ordnet das Gehörte in die allgemeine Lage ein, schildert Trends für China und die Welt. Trotz aller plastischen Schilderung ist das Buch allerdings keine Aneinanderreihung von Dialogen, sondern eine wirklich gute Mischung.
Die befragten Menschen schildern ihre Projekte, ihre Träume, ihren ganz normalen Alltag in dieser so besonderen Stadt. So positiv das breit angelegte Themenfeld auch ist, beim Wohnen gerät Frank Sieren etwas vom geraden Pfad ab. Das Aufzählen der verschiedenen Architekturprojekte hätte gerne etwas kürzer ausfallen dürfen - oder ich hätte ein paar Seiten überspringen müssen. Aber bei diesem Thema kommt der Autor aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. Als Leser wird man von der langen Liste von Gebäuden und Projekten förmlich erschlagen, aber das ist möglicherweise auch nur eine subjektive Wahrnehmung.
Was mich in Shenshen überrascht hat: wie sehr die Menschen dort die vielfältigen Innovationen mit ihren Licht- und Schattenseiten bereits selbstverständlich in den Alltag integriert haben. Und wie normal es sein kann, von einem Roboter bedient oder von einem Auto ohne Fahrer überholt zu werden. Aber ich bin auch darüber erschrocken, wie schnell man sich an die allumfassende Überwachung dort gewöhnen kann.
Das Buch beschreibt nicht nur Wohnen, Arbeiten und Leben in Shenshen, sondern Frank Sieren liefert auch eine wirtschafts- und gesellschaftspolitische Analyse dazu. Was mir dabei besonders gefallen hat, sind die Exkurse nach Deutschland und Europa, um die Bedeutung der Entwicklungen in der chinesischen Mega-City auch in einem anderen Kontext zu erläutern und einzuordnen. So zeigt Sieren am Beispiel Huawei, wie staatliche und Unternehmensinteressen verknüpft sein können - oder eben auch nicht.
Neben “Wohnen” ist “Chillen” ein sehr spezielles Kapitel. Wer sich nicht für Musik, Subkultur und ähnliche Dinge interessiert, kann diesen Abschnitt auch gut überspringen, ohne im Gesamtverständnis dann Defizite zu haben. In seinem abschließenden Ausblick fasst Frank Sieren seine Recherche-Ergebnisse in wohl formulierten Thesen zusammen. Und er ruft dazu auf, sich mit Shenshen, China insgesamt und den dortigen Entwicklungen intensiv zu befassen. Anregungen dazu hat er mehr als genug gegeben.
Fazit:
Für politisch interessierte Menschen ist das Buch im Grunde eine Pflichtlektüre. Nicht nur wegen des so faszinierenden Blicks auf China und die dortige Entwicklung. Sondern vor allem aufgrund der Pionier-Arbeit, die in Shenshen in so vielfältiger Weise geleistet wird. Mobilität, neue Wohnformen, künstliche Intelligenz, alternative Ernährung - Frank Sieren arbeitet eine breite Themen-Palette ab. “Shenshen” ist ein Sachbuch - liest sich für mich aber spannend wie ein Krimi.
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