Sensibel
- Klett-Cotta
- Erschienen: Oktober 2021
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Eine Welt der Schneeflocken?
Es scheint der Grabenkampf unserer Zeit zu sein: Immer mehr erhitzt die Debatte um „political correctness“ die Gemüter und spaltet die gesellschaftliche Mitte. Auf der einen Seite „Snowflakes“, die angeblich ständig nach safe spaces und Triggerwarnungen schreien und überall zu ahnende Übertretungen sehen, auf der anderen Seite „Boomer“ und alte weiße Männer, denen eine Furcht vor dem Verlust der eigenen Privilegien unterstellt wird und die wohl stur auf ihrem Recht bestehen, einen Schaumkuss auch weiterhin ganz anders zu nennen. #MeToo, BlackLivesMatter vs. BlueLivesMatter, Gendersternchen und Binnenstrich: Die Ausprägungen dieses Diskurses sind vielfältig, und die Filterblasen des Internets treiben beide Seiten immer weiter auseinander. Höchste Zeit also, einen Schritt zurückzutreten, der modernen „Sensibilität“ auf den Zahn zu fühlen und sich möglichen Lösungen der Konfliktherde philosophisch anzunähern – ein ambitioniertes Unterfangen, dem Dr. Svenja Flaßpöhler mit diesem Buch nachgeht.
„Wo liegt die Grenze des Sagbaren?“
Flaßpöhler ist Literaturkritikerin, Geisteswissenschaftlerin und Autorin. Als Co-Leiterin gestaltet sie nicht nur das Programm der phil.cologne, sondern hat außerdem die Chefredaktion des Philosophie Magazin inne. In ihrer aktuellen Veröffentlichung geht sie nunmehr dem heutigen Sensibilitätsbegriff nach, skizziert dessen Historie und beleuchtet sowohl seine progressiven als auch regressiven Tendenzen. Wann liegt eine Grenzüberschreitung vor? Oder soll man sich „einfach mal nicht so anstellen“? Wann schlägt die Forderung nach Empathie in Totalitarismus um? Wie wird institutionell mit diesen Themen umgegangen, und wie ist das Individuum dazu positioniert?
„Gefühlsansteckungen entfesseln, mobilisieren Massen – im Guten wie im Schlechten“
Flaßpöhler geht ihren Ausgangsfragen zielführend, jedoch über Umwege nach. Im ersten Abschnitt stellt sie – bezugnehmend auf das Werk des Soziologen Norbert Elias – überspitzt einen mittelalterlichen Menschen einem zeitgenössischen „Hipster“ entgegen und führt so die zivilisatorische Entwicklung eines Gefühls für die Grenzen anderer eindrücklich vor Augen. Naturgegeben wirft diese Entwicklung die Frage auf, wie ein möglicher Endpunkt dafür aussehen könnte und ob wir diesen bald erreichen oder bereits erreicht haben – „Höhepunkt oder Kipppunkt?“ fragt dementsprechend provokativ die Überschrift.
Routiniert rekurriert Flaßpöhler auch im weiteren Verlauf auf große Philosophen, um ihrem Kernthema aus möglichst differenzierten Blickwinkeln gerecht zu werden. So stellt sie im zweiten Abschnitt Friedrich Nietzsche, der in einer Verletzung das Potenzial zu Wachstum und zur Ausbildung von Widerstandskraft (Schlagwort: Resilienz) sieht, in einem fiktiven Dialog Emmanuel Levinás entgegen, der unter dem NS-Regime Schreckliches zu erleiden hatte und der in der Verletzlichkeit an sich eine grundmenschliche Eigenschaft und somit etwas zutiefst schützenswertes sieht. Gemein ist beiden (wenn auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln), dass sie eine „Kraft der Wunde“ konstatieren. Somit kristallisiert sich hier ein für Flaßpöhlers weitere Argumentation wichtiger Punkt heraus.
„Resilienz und Sensibilität stehen keineswegs in Opposition. Das tun sie nur, solange sie verabsolutiert werden“
Ähnlich erhellend geht Flaßpöhler in den folgenden Abschnitten vor, in welchen sie die Literatur der Empfindsamkeit von Roussea und David Humes Konzept der Gefühlsansteckung beleuchtet, welche das heutige Verständnis von Empathie und Sensibilität entscheidend mitgeprägt haben, und stellt dieses als Kehrseite die „pervertierte Einfühlung“ des Marquis de Sade entgegen, den „Lustgewinn an fremdem Leid“. Auch in ihrem Nachspüren des Opfer- und Traumabegriffes und der Funktionsweise des psychischen Apparates erläutert die Autorin gekonnt, dass die Problematik stets zwei Seiten hat. Wo hört das Gebot zu Schutz von außen auf, wo beginnt individuelle Verantwortung?
Ein Blick auf die Sprachsensibilität darf natürlich nicht fehlen – hier zieht sie die dekonstruktivistischen Konzepte Derridas und Butlers zu Rate und argumentiert schlüssig dagegen, dass der „linguistic turn“ Sprachverbote nahelege, sondern plädiert stattdessen für mehr Kontextsensitivität. Unter Heranziehung der Standpunkttheorie legt Flaßpöhler schließlich dar, warum Einfühlung notgedrungen immer auch ihre Grenzen hat, um sich schließlich heutigen gesellschaftlichen Phänomenen zuzuwenden. Sogar die coronabedingten Abstandsregeln vermag sie unterhaltsam und erhellend in ihren Gedankenfluss mit einzubinden.
Zuletzt greift sie auf das Tocqueville-Paradox zurück, welches besagt, dass, je „gleicher“ eine Gesellschaft wird, desto empfindlicher sie auf noch bestehende Ungleichheiten reagiert. An diesem Punkt ist sie wieder bei der Ausgangsfrage angelangt und kommt zu einem interessanten Schluss, der nicht gänzlich vorweggenommen werden soll.
Flaßpöhler schreibt manchmal etwas hochgestochen, doch kann man ihren Ausführungen stets folgen. Sie zitiert sinnvoll und vermag einen unterhaltsamen roten Faden zu spannen, der ihr nur gelegentlich entgleitet. Dabei gelingt es ihr, ihrem eigenen Anliegen trotz des hohen Anspruchs durchaus über weite Strecken gerecht zu werden. Auch wenn nicht jedes einzelne Argument sinnvoll und jeder Kontext chronologisch oder verständlich aufgearbeitet wird, bleibt ein sehr runder Gesamteindruck haften, der sich dafür ausspricht, den Mut zur Differenz zu bewahren.
Fazit
Wer sich für die gesellschaftlichen Debatten unserer Zeit interessiert und nach philosophisch fundierten Denk- und Handlungsanstößen für die „Krisen unserer Zeit“ auf der Suche ist, sollte mit Dr. Svenja Flaßpöhlers Sensibel beginnen!
Svenja Flaßpöhler, Klett-Cotta
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