Fast alles Geld der Welt und der Lockruf des rechtsfreien Raums.
Die Bezeichnung „Kryptowährung“ definiert einerseits ein digitales Zahlungsmittel, das ausschließlich online existiert, während andererseits die Mehrheit der Menschheit (noch) keine Ahnung hat, was und welche Möglichkeiten (und Gefahren) sich dahinter verbergen. Erfunden, um dem ‚normalen‘ Bank- und Börsensystem, das den Handel mit Geld gesetzlich überwachen lassen und bei Bedarf deckeln muss, ein Schnippchen zu schlagen, können Spekulanten online ohne Kontrolle agieren = ihr Unwesen treiben.
Kryptowährungen existieren verschlüsselt im Netz. Ihre Bewegungen können schwer oder gar nicht verfolgt werden. Damit öffnet sich dem Spekulanten ein Paradies: Er kann so mit seinem Geld arbeiten, wie er allein es will. Da es keine Einschränkungen für den Einsatz gibt, sind gewaltige Profite, aber auch ruinöse Verluste möglich. Es ist kein Wunder, dass Kryptowährungen derzeit von sämtlichen Regierungen dieser Welt verboten werden; nur das bitterarme Land El Salvador kümmert sich nicht um den Bann und akzeptiert „Bitcoins“ und „Token“ als Zahlungsmittel.
Erwartungsgemäß öffnet die mangelnde Regulierung versierten Betrügern Türe und Tore. Sie gründen Kryptobörsen, über die Kryptowährungen gehandelt werden können. In der Regel weiß niemand, wer sich hinter diesen wolkigen Institutionen verbirgt. Das System beruht auf dem Vertrauen in seine Stabilität: Spekulanten pumpen Milliardensummen in ein System, das berüchtigt für seine Betrügereien ist. Für diejenigen, die am Hebel sitzen, ist es leicht, Kryptogeld in eigene (Online-) Taschen umzuleiten. Es ward dann nie wieder gesehen.
Wenige kryptokundige Menschen stiegen in dieser neuen Finanzwelt zu zentralen Figuren auf. Sie erkannten früh die Chancen - die legalen und die illegalen. Vielleicht die prominenteste Person war bis 2023 Sam Bankman-Fried, der seine Firma FTX global an die Spitze der Kryptobörsen gebracht hatte. Für diesen Aufstieg benötigte er nur wenige Jahre. Bankman-Fried hielt sich im Hintergrund. Ließ er sich interviewen, fiel er vor allem durch sein exzentrisches Auftreten auf. Dies verschaffte ihm den Nimbus eines unkonventionellen Genies, dem zahlreiche finanzpotente Spekulanten, aber auch seine Mitarbeiter verfielen.
Darf ein Genie alles?
2021 hatte der Journalist Michael Lewis die Möglichkeit, sich dem schwer fassbaren Bankman-Fried und seinem inneren Kreis zu nähern. Er bekam Einblick hinter die Kulissen einer ‚Firma‘, die sich in erster Linie durch Chaos definierte. Als FTX Ende 2022 implodierte, weil Bankman-Fried offenbar Kundengelder in Milliardenhöhe auf sein persönliches Konto übertragen hatte, saß Lewis während der sich anschließenden multimedialen, ökonomischen und juristischen Apokalypse in der ersten Reihe.
Lewis war fasziniert von dem seltsamen Mikrokosmos, in den er vordrang. Er traf auf junge Menschen, die an Schreibtischen vor ihren Monitoren lebten und ständig nach Möglichkeiten und Gelegenheiten fahndeten, noch mehr Online-Geld zu scheffeln, das sie oft nicht einmal interessierte: Es war ihr Lebensstil zu raffen = zu ‚spielen‘. Die bizarren Summen des durch klassische = reale Werte überhaupt nicht gedeckten Geldes unterstützte diese Illusion. Welche Schäden der Welt durch die rücksichtslose Zockerei entstanden, war diesen Nerds egal. Wie ihr Vorbild Sam Bankman-Fried unterzogen sie ihr berufliches und privates Handeln einer strikten Kosten-Nutzen-Rechnung: Fiel diese im Rahmen eines Geschäfts negativ für eine ‚Minderheit‘ betroffener Pechvögel aus, war das eben so.
Niemand außer Bankman-Fried wusste, was wirklich bei FTX vorging. Er beanspruchte diese Position, da aus seiner Sicht niemand sonst über die geistige Fähigkeit verfügte, FTX durch die Stürme des Kryptohandels zu steuern. Dabei war Bankman-Fried ursprünglich mit dem Ziel gestartet, die Gewinne seines Systems ins Gemeinwohl zu investieren. Er wollte das Geld den Bedürftigen geben. Dazu ist es jedoch nie gekommen; stets beanspruchten das System und seine Aufrechterhaltung den Löwenanteil der Aufmerksamkeit. Zudem stand für Bankman-Fried der „große Plan“, den nur er allein kannte, im Vordergrund. Dass auf dem Weg dorthin manchmal Bitcoin-Werte in Milliardenhöhe spurlos aus dem imaginären FTX-Geldspeicher verschwanden, kümmerte ihn nicht; ein auch in dieser neuen Finanzwelt kein tolerables Geschehen.
Der Mann aus dem Nichts
Man hätte gewarnt sein müssen, doch Gier vernebelt den Verstand. Wer viel Geld besitzt, will immer mehr an sich reißen. Hinzu kommen jene, die nur über geringe finanzielle Mittel verfügen, diese aber in der Hoffnung auf einen Profit, der die mageren Zinsalmosen der Banken übertreffen, ebenfalls online ‚investieren‘. Dass sie stattdessen spekulieren, merken sie, wenn sich ihre kleinen Ersparnisse in Luft auflösen.
Michael Lewis wird von seinen Kritikern beschuldigt, Sam Bankman-Fried allzu unschuldig dargestellt zu haben. Er ist demnach dem Subjekt seiner Nachforschungen zu nahe gekommen und verfallen. In einem ausführlichen Epilog nimmt Lewis dazu Stellung. Aus seiner Sicht hat er sich bemüht objektiv zu bleiben, während Bankman-Fried von der Justiz und den Medien als skrupelloser Soziopath, Glücksspieler und Dieb hingestellt wurde. Lewis glaubt diesem aus seiner Sicht zu simplen Urteil nicht. Er arbeitet heraus, welche guten Taten Bankman-Fried geplant hatte, und denkt laut darüber nach, ob diese realisiert worden wären, hätte man 2023 nicht den Stecker gezogen. Ihm fällt es schwer, in Bankman-Fried nur den Verbrecher zu sehen, zumal es gelang, die Ansprüche sämtlicher FTX-Gläubiger zu befriedigen - sogar mit Zinsen. Lewis betrachtet Bankman-Fried als verkanntes Genie, das über seine sozialen Defizite gestolpert und auch deshalb quasi unbemerkt in die Kriminalität abgerutscht ist.
Nichtsdestotrotz hält Lewis nicht verborgen, was seine intensiven Recherchen ergaben. Er ist Bankman-Fried durch dessen Kindheits-, Schul- und Studienjahre gefolgt. Das Muster wird rasch deutlich: Bankman-Fried ist ein Mensch mit einem ‚verschobenen‘ Wahrnehmungs- und Realitätssinn. Das Wort „Autist“ fällt erst im Epilog: Die Anklage drehte Bankman-Fried aus dieser aus Lewis’ Sicht wackligen Einschätzung erst recht einen Strick. Hat das etablierte System ein Exempel statuieren wollen, um die Krypto-Spekulanten insgesamt abzuschrecken? Dem Leser stellt der Autor zusätzlich die Frage, ob dieser Mann überhaupt versteht, was er angerichtet hat, während er sein Krypto-Spiel trieb. Regierung und Justiz der Vereinigten Staaten sahen dies anders. 2023 wurde Bankman-Fried zu einer Gefängnisstrafe von 25 Jahren ohne Möglichkeit auf vorzeitige Entlassung verurteilt.
Fazit
Ein „True-Crime“-Thriller ohne Leichen, in dem aufgrund der ungeheuren Geldsummen, die gescheffelt und verschoben wurden oder ‚spurlos‘ verschwanden, mehr als genug Opfer zurückblieben, die einem ‚Finanzguru‘ verfielen, vertrauten und folgten: auch eine deprimierende Lektion in Sachen menschlicher Gier.
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