Sage nichts: Mord und Verrat in Nordirland
- hanserblau
- Erschienen: Mai 2024
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Wahrscheinlich eines der besten Bücher über den Nordirlandkonflikt.
Was lapidar als Nordirlandkonflikt oder noch geschönter als die „Toubles“ bezeichnet wird, war schlicht und einfach ein Bürgerkrieg zwischen katholischen Iren und protestantischen Engländern in Nordirland. Autonomiebestrebungen gab es schon lange, mit dem Osteraufstand 1916 wurden diese aber erst einmal blutig beendet. 1921 kam es dann doch zur Teilung Irlands in einen Freistaat Irland im Süden, der 1948 zur Republik Irland wurde, und ein, aus neun Grafschaften bestehendes Nordirland, das zum Vereinten Königreich Großbritannien und Nordirland gehört. Doch der Wille, ein vereintes Irland zu erreichen war unter den katholischen Iren Nordirlands ungebrochen. Die Gewalt flammte 1968 abermals auf und eskalierte ab 1969 immer mehr. Erst im Karfreitagsabkommen von 1998 kamen beide Seiten, die Unionisten für die englische Bevölkerung und die Sinn Féin für die Iren, zu einem Konsens, der bis heute einen relativ stabilen Frieden in Nordirland gewährleistet hat.
Das gesamte Geschehen ab 1969
Patrick Radden Keefe ist ein amerikanischer Investigativjournalist mit irischen Wurzeln. Er ist Redakteur beim „The New Yorker“ und Autor von mittlerweile fünf Sachbüchern. Sowohl seine Artikel als auch seine Bücher wurden viel beachtet, gelobt und manchmal auch mit Preisen geehrt. In dem vorliegenden Buch, das bereits 2019 im Original erschienen ist, gibt Radden Keefe, in drei Kapitel gegliedert, die Historie des Nordirlandkonfliktes ab 1969 mehr oder weniger chronologisch wieder.
Er geht auf die Hochzeit des Konfliktes ein, in der jederzeit und überall ein Anschlag möglich war. Gesehen wird das Ganze fast ausschließlich aus der Perspektive der katholischen Bevölkerung Nordirlands, wobei Radden Keefe aber immer Neutralität wahrt. Er zeigt die möglichen Auswirkungen des Karfreitagabkommens auf die Kämpfer der IRA und stellt das lange geheim gehaltene „Belfast Project“ des Boston College, Massachusetts vor, das zwischen 2000 und 2006 unzählige Interviews mit Beteiligten beider Seiten der Troubles beinhaltete.
Diese Oral History sollte als Quelle für künftige Wissenschaftler dienen, stellte das College aber schnell vor große Herausforderungen, denn „stattdessen wurden die Tapes zu strafrechtlichen Beweismitteln – und zu einer politischen Waffe“. Jeder, der gegen die strikte Richtlinie der IRA „Sag nichts“ verstieß, musste auch nach Beendigung der Gewalt zwischen IRA und Briten mit dem Tot rechnen, selbst wenn viele Interviews und Aussagen, wie für Mitglieder der IRA üblich, im Konjunktiv gehalten sind: Phrasen, wie „Es könnte sein, dass“ … oder „vielleicht und eventuell war das so“ werden hier fast schon überstrapaziert.
Einzelne Protagonisten tragen das Gerüst des Buches
Raddon Keefe bezeichnet sein Buch als „erzählendes Sachbuch“. Den Inhalt hat er in einer akribischen Recherchearbeit zusammengetragen. Er führte unzählige Interviews, suchte zahlreiche Archive auf und stellte so in vier Jahren mühseliger Arbeit Stück für Stück die Historie der Troubles zusammen. Doch er geht nicht im groben Überblick an das Geschehen heran, sondern stellt dafür das Leben von fünf Iren exemplarisch vor, die alle miteinander verwoben sind. Das sind Gerry Adams, die IRA-Kämpfer Brendan Hughes, Dolours und Marian Price und die protestantisch geborene Jean McConville. Letztere stellt mit ihrem tragischen Schicksal den Ausgangspunkt dar: Die Witwe und Mutter von 10 Kindern wurde im Dezember 1972 mitten in der Nacht aus ihrer Wohnung in einem Belfaster Sozialbau entführt. Sie blieb für immer verschwunden, ihre Kinder mussten sich alleine durchschlagen.
Dolours und Marian Price entstammen dem „irischen Adel“, soll heißen, ihre Familie engagierte sich schon über Generationen für die Einheit Irlands – auch mit Gewalt. Die beiden Schwestern waren die ersten Frontkämpferinnen der IRA. Zahlreiche Anschläge gehen auf ihr Konto, auch der auf das Old Bailey in London. Brendan Hughes war zeitweise ihr Kommandant. Er gehörte zu den Spitzen der IRA und nahm am legendären „Dirty Protest“ und dem langen Hungerstreik teil, der neben Bobby Sands noch zahlreichen anderen das Leben kostete.
Der, nach dem Karfreitagsabkommen, völlig desillusionierte Hughs brach dann auch als einer der ersten das Schweigegelübde und sagte, Gerry Adams persönlich sei der oberste Kommandant der IRA gewesen. Gerry Adams ist auch heute noch eine eher fragwürdige Person. Der ehemalige Präsident von Sinn Féin behauptet bis jetzt z.B.: „Ich bin kein Mitglied der IRA und war auch nie in der IRA“ und „Ich bin vollkommen im Reinen mit mir. Absolut“, weil er kein Blut an den Händen hätte, obwohl das Gegenteil bewiesen werden kann. Die Frage nach Schuld und Strafverfolgung ist quasi sein Schatten.
Raddon Keefe zeigt anhand dieser Leben, wie ein Dasein in Nordirland während der Troubles aussehen konnte. Er erzählt von der Gewalt, vom Kampf auf den Straßen, den Entführungen und auch von den geplatzten Hoffnungen vieler, auf ein vereintes Irland. Die Einblicke sind sehr persönlich, auch tiefgreifend, oft brutal und immer sehr tragisch. Begleitet werden die Ausführungen durch zahlreiche schwarz-weiß-Fotos, die aber leider meist nur sehr klein sind. Am Ende des Buches ist eine ausführliche Quellen- und Literaturangabe angehängt, die zeigt, dass der Autor alle Aussagen belegen kann.
Packend, wie ein Krimi
Es gibt viele Bücher zum Nordirlandkonflikt, doch wahrscheinlich ist keins gleichzeitig so neutral informativ, wie persönlich. Man begleitet die Personen durch die Zeit zwischen 1969 und ca. 2010, taucht tief ein in ihre Leben. Das geschieht unmissverständlich und auf den Punkt gebracht. Zum Schluss wird auch noch das Schicksal von Jean McCoville geklärt. Jedenfalls fast, denn wer wirklich für ihren Tod verantwortlich ist, verliert sich wieder im Konjunktiv und dem „Sag nichts“. Das Ganze ist trotz aller Gewalt und Tragik unglaublich spannend. Raddon Keefe schafft es, den Ton wissenschaftlich und gleichzeitig angenehm flüssig zu halten. Der Verlag hanserblau preist das Buch als „eine packende Erzählung über Schuld, Verrat und Mord“ an, was es unzweifelhaft auch ist.
Fazit
Ein „erzählendes Sachbuch“, das ebenso packend, wie informativ den Nordirlandkonflikt beleuchtet. Sehr persönlich und dennoch neutral schildert Patrick Radden Keefe dieses dunkle Kapitel und zeigt, dass er die Geschichte einer Nation wie eine Familiensaga wiedergeben kann. Dieses Buch ist ein Muss und ohne Einschränkung absolut empfehlenswert!
Patrick Radden Keefe, hanserblau
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