Decker gewährt dem Leser einen ungemein intimen Blick in Rilkes Leben
„Er war in gewissem Sinn der religiöseste Dichter seit Novalis, aber ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt Religion hatte. Er sah anders. In einer neuen, inneren Weise.“
Diese Worte, die der österreichische Schriftsteller Robert Musil anlässlich einer Rilke-Feier am 16. Januar 1927, gut drei Wochen nach dessen Tod, wählt, bringen in eindrucksvoller Weise das Besondere Rainer Maria Rilkes zum Ausdruck. Eines schillernden Dichters, der bis in sein Spätwerk hinein die Spur Gottes in der Welt und in den Menschen sucht. Eines Mannes, der den konfessionellen Konflikt bei der Heirat seiner protestantischen Frau auflöst, indem er aus der katholischen Kirche austritt, und der gleichzeitig früh die Nähe von Gebet und Gedicht erkennt.
Blick in eine empfindsame Seele
Ein Ziel der nun erschienen Rilke-Biografie Gunnar Deckers ist es dann auch, Rilke als modernen Mystiker vorzustellen, als einen Beschwörer der „Als-ob-Existenz“ Gottes, der nicht in Einheitsvisionen denkt. Das Buch fragt aber auch nach Wendepunkten und Widersprüchen im Leben Rilkes, von denen es nicht wenige gab. Auch der Einfluss der zahlreichen Orte, die der „Reisende“ besuchte, und der Menschen, denen er begegnete, auf sein Schaffen und sein Werk werden thematisiert.
Nicht vergessen werden darf dabei selbstredend Rilkes ambivalentes Verhältnis zu Frauen, seine notorische Geldknappheit und seine ständigen körperlichen Beschwerden bzw. seine Dauerrekonvaleszenz. Zum Schluss rückt dann noch Rilkes Verhältnis zum Deutschen - auch der deutschen Sprache - in den Mittelpunkt. Sein letzter Traum: ein französischer Dichter zu werden; ein Entschluss, der sich nach dem Ersten Weltkrieg verfestigte. Mit gerade einmal 51 Jahren stirbt einer der wichtigsten Lyriker des frühen 20. Jahrhunderts an Leukämie, nachdem er wie ein Seismograf den in ihm wachsenden Tod registrierte. Gleichwohl ist sein beinahe lebenslanger Kampf gegen die körperliche Schwäche und dessen Verfall ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis seines Werkes.
Gelobter Biograf und Preisträger
Gunnar Decker, Autor der nun im Siedler Verlag erschienen Rilke-Biografie, wurde 1965 in Kühlungsborn geboren und wuchs in Bad Doberan auf. Er studierte an der Humboldt-Universität zu Berlin Philosophie und promovierte dort 1994 mit einer Arbeit über „Protestantische Mystik in der Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie bei Gottfried Arnold“. Seit 1995 arbeitet er als freiberuflicher Film- und Theaterkritiker, seit 1997 als Buchautor und seit 2008 als Redakteur der Zeitschrift „Theater der Zeit“. Der promovierte Philosoph veröffentlichte vielfach gelobte Biografien, u.a. zu Hermann Hesse, Gottfried Benn, Franz Fühmann und Ernst Barlach. 2016 wurde er mit dem von der Berliner Akademie der Künste verliehenen Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet.
Mit dem bekannten österreichischen Lyriker Rainer Maria Rilke hat sich Decker bereits in seinem 2004 erschienen Werk „Rilkes Frauen oder die Erfindung der Liebe“ beschäftigt.
Der Mensch Rilke
Das Besondere an der nun vorliegenden Biografie ist, dass es Gunnar Decker versteht, uns Rilke als Menschen trotz oder wegen all seiner Widersprüche und Unklarheiten näher zu bringen, ohne dabei die Bedeutung seines Werkes zu schmälern. Der Autor schafft etwas, was wirklich selten ist: Durch die Mischung von Darstellung und der Wiedergabe vor allem von Briefauszügen kommt man dem 1875 in Prag geborenen Rilke sehr nahe, ist dabei, wenn dieser Rodin in Paris trifft oder sich am Ende in der Schweiz von der Welt zurückzieht, auch um sich hier eine Gegenwelt zu erschreiben. Wenn man das Gefühl hat, dass ein Biograf nicht wertet, sondern die Person, über die er schreibt, vielmehr beobachtet und im besten Fall sich selber beschreiben lässt, dann hat man viel gewonnen. Genau das gelingt Decker mit seiner Rilke-Biografie.
Ein bewegtes Leben
Dass das Buch ein großes, kurzweiliges Lesevergnügen ist, liegt auch am richtigen Ton, den Decker hier trifft: mal lakonisch, mal pointiert, aber immer präzise den Moment einfangend. Aber natürlich lebt die Biografie auch von Rilkes unsteten, unangepassten und mitunter chaotischen Leben. Sei es die fehlende Sesshaftigkeit des bekannten Lyrikers, sein sich wandelndes Verhältnis zu Paris (anfangs verhasst und später Lebenselixier) oder seine spezielle Beziehung zu Frauen, die ihm Mutter- oder Tochterersatz sind, und insbesondere zur Mutter Phia: ein Verhältnis, dass nur in der Ferne und durch einen lebenslangen Briefwechsel möglich zu sein scheint. Rilke, der kein Vater für seine Tochter Ruth sein kann und dessen Ehe mit Clara Westhoff früh in eine freundschaftliche Beziehung übergeht, der seine Hochzeitsreise mit seiner Frau gemeinsam im Sanatorium verbringt, war mit einer „überfeinerten Empfindsamkeit“, wie es Decker nennt, ausgestattet. Vielleicht ist dies der Grund, warum er zu einem der herausragendsten deutschsprachigen Lyriker wurde. Seinen Stellenwert beschrieb Robert Musil mit den Worten: „Dieser große Lyriker hat nichts getan, als daß er das deutsche Gedicht zum ersten mal vollkommen gemacht hat; er war kein Gipfel dieser Zeit, er war einer der Erhöhungen, auf welchen das Schicksal des Geistes über Zeiten hinwegschreitet … Er gehört zu den Jahrhundertzusammenhängen der deutschen Dichtung, nicht zu denen des Tages.“
Fazit
Gunnar Decker versteht es auf beeindruckende Weise, das Leben Rainer Maria Rilkes vor unseren Augen lebendig werden zu lassen. Es ist ein großes Vergnügen, ebenso über kleine Randnotizen wie bekannte Hintergründe aus dem Leben des österreichischen Lyrikers zu lesen. Wir entdecken mit der Biografie fast hundert Jahre nach dessen Tod Rilke nicht neu, aber vielleicht auf eine noch nicht dagewesene Weise.
Deine Meinung zu »Rilke - Der ferne Magier«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!