Eine lange überfällige Chronik queerer deutscher Historie
Ohne die Inklusion queerer Perspektiven bleibt jede Betrachtung der deutschen Vergangenheit nicht nur unvollständig, sondern auch unzulänglich.
LGBTQIA+: Auch heute ist die (zugegebenermaßen etwas sperrige) Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual, Trans, Queer, Intersex, Asexual und andere Menschen, die nichts ins heteronormative Gefüge passen, vielen nicht geläufig. Dennoch hat sich in Sachen Sichtbarkeit queerer Menschen und alternativer Lebensentwürfe viel getan, nicht nur in Medien und Kultur, sondern auch in den Bereichen Politik und Gesellschaft sowie Forschung, Bildung und Pädagogik. Doch handelt es sich dabei wirklich um eine lineare, klar unter dem Gesichtspunkt des „Fortschritts“ zu deutende, (chrono-)logische Entwicklung oder vielmehr um nur einen Aspekt von vielfältigen Bewegungen und Gegenbewegungen, wie sie im Selbstverständnis sowie der Fremdwahrnehmung queerer Menschen auf individueller wie auf institutioneller und auch gesamtgesellschaftlicher Ebene schon immer gang und gäbe waren?
Für Historiker Benno Gammerl, der nach Zwischenhalten am Max-Planck-Institut Berlin sowie am Londoner Goldsmiths College heute eine Professur für Gender- und Sexualitätengeschichte am Europäischen Hochschulinstitut von Florenz innehat und bereits 2021 mit der Veröffentlichung anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik: Eine Emotionsgeschichte von sich reden machte, ganz klar eine rhetorische Frage. Personen, die sich in punkto Geschlecht oder Sexualität von einer (wie auch immer konstruierten) „Norm“ unterscheiden, gibt es seit Anbeginn der Zeit; die Queer Studies hingegen stecken Gammerls Ansicht nach hierzulande immer noch in den Kinderschuhen. Deshalb legt er nun mit Queer nach – und zeichnet (wie der Untertitel verrät) Eine Deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute auf, welche einen ausführlichen Blick auf die soziokulturellen Entwicklungen erlaubt, die sich in Bezug auf nicht heteronormativ begehrende und/oder lebende Menschen im letzten Jahrhundert vollzogen haben …
„There is no such thing as a single-issue struggle because we do not live single-issue lives.“ – Audre Lorde
Gammerls grundlegende These geht bereits aus der Einleitung hervor: Die Geschichte queerer Menschen in Deutschland ist keine Geschichte, die von Unverständnis, Prüderie, Ächtung und Verfolgung hin in eine glanzvolle Utopie von Gleichberechtigung, Freiheit und Akzeptanz führt. Vielmehr haben diese gegensätzlichen Pole von jeher auf oftmals sehr facettenreiche und geradezu widersprüchliche Arten und Weisen koexistiert und sich dabei lediglich – stets dem Wandel der Zeit unterworfen – immer weiter ausdifferenziert. Deshalb entscheidet sich Gammerl dagegen, rein chronologisch vorzugehen, und ordnet stattdessen parallele, zirkuläre oder gegensätzliche Strömungen thematisch an. Der Übersichtlichkeit halber gewähren die Abschnitte, in die das Buch unterteilt ist, dennoch einen zeitlich grob linearen Überblick:
So werden in „Das Kaiserreich“ erste aktivistische Vereinigungen vorgestellt, welche sich um die Belange von Minderheiten wie Frauen und nicht-heterosexuellen Menschen einsetzten. Selbstverständnis und Begrifflichkeiten sowie Organisation sahen damals natürlich noch anders aus, doch lassen sich bereits hier klare aufklärerische Tendenzen erkennen, welche einer Atmosphäre der Skandalisierung (hierfür beispielhaft der Präzedenzfall „Eulenburg-Harden“) entgegenwirkten. Oftmals gingen größere Sichtbarkeit und Errungenschaften sowie größere Stigmatisierung und Repressionen als zwei Seiten derselben Medaille miteinander einher. In „Die Weimarer Republik“ werden die oftmals hochgehaltenen „hemmungslosen“ Goldenen 20er hinterfragt sowie die Bedeutsamkeit des Sexualforschers Magnus Hirschfeld herausgearbeitet. „Entgrenzte Verfolgung und Überleben im Nationalsozialismus“ nimmt sich der Verhältnisse unter der Diktatur Hitlers an und ist dabei – da der bislang vermutlich am breitesten erforschte Zeitraum – verhältnismäßig knapp gehalten, vermag aber auch eher unbekannte und erhellende Erkenntnisse vorzubringen, während „Die Nachkriegsdekaden in Ost und West“ eine anklagende Bestandsaufnahme der nach Zusammenbruch des Dritten Reichs in vielen Institutionen fortwirkenden rechten Strukturen (so blieb z.B. der berüchtigte §175 StGB in seiner unter der NS-Herrschaft erweiterten Fassung langjährig bestehen) darstellt, welche eine Entschädigung queerer Opfer des Nationalsozialismus viel zu lange aufschob und bis heute nicht gänzlich aufgearbeitet ist. Nach einer kurzen Erläuterung der Unterschiede in den Lebensverhältnissen queerer Menschen zwischen Ost- und Westdeutschland werden in „Bewegungen seit den 1970er-Jahren“ vor allem die wachsende Anzahl an Subkulturen und Befreiungsbemühungen sowie deren fortdauernde interne Differenzen thematisiert, bevor „Neue Normalitäten seit den 1980er-Jahren“ die weitreichenden Konsequenzen der AIDS-Krise ins Rampenlicht rückt. Im Anschluss an eine Betrachtung der zunehmenden öffentlichen Repräsentation, aber auch stets wachsenden Verbreiterung des queeren Spektrums sowie des aufkeimenden Bewusstseins für Intersektionalität im Abschnitt „Diversifizierung seit den 1990er-Jahren“ wird im Schlusswort ein erhellendes Fazit in Bezug auf die möglichen „Perspektiven queerer deutscher Geschichte“ gezogen, welche sich aus dem Vorgesagten (potenziell) ergeben – und dabei ganz nebenbei noch darauf eingegangen, wie deutsche und queere Geschichte schon immer untrennbar miteinander verquickt waren, sind und sein werden.
Geschichte soll uns als lebendige Erzählung daran erinnern, dass wir nicht wissen können, wie die Zukunft wird, und uns gerade deswegen darum kümmern müssen.
Gammerl wählt für seinen Streifzug einen persönlichen, süffisanten und punktuell an Polemik grenzenden Stil, der dennoch wissenschaftlich, präzise und unterhaltsam und somit in sich stimmig (sowie ausdrucksvoll und charismatisch) bleibt. Schließlich will er ein bisschen Aufrütteln und Bewusstsein schaffen, wo es daran zuvor vielleicht noch mangelte. Dabei gelingt es ihm, sachlich und vor allem differenziert zu bleiben, komplizierte Fragestellungen und Problematiken ohne erhobenen Zeigefinger zu vermitteln und somit eine breite Leserschaft zum Nachdenken anzuregen. Jeden Abschnitt führt er mit einem einschlägigen Foto aus der Zeit ein, welches er philosophierend beschreibt (dies gerät lediglich deshalb holprig, weil die kleinen Schwarz-Weiß-Bilder nur schwer zu erkennen sind und man ständig vor- und zurückblättern muss, um die textlichen Bezüge zu dem Gezeigten herzustellen) und dabei erste Fragestellungen zur jeweiligen Dekade anreißt, die er im Folgenden weiter ausführt. Dabei geht er ausführlich auf Prozesse, Einrichtungen, Definitionen und Anekdoten der letzten über 100 Jahre ein, von denen einige selbst für diejenigen, die mit den Queer Studies bereits vertraut sind, neu und überraschend sein dürften. Ein umfangreicher Anhang mit Kurzzusammenfassungen einzelner Abschnitte sowie weiterführender Bibliographie unterstützt den Eindruck fundierter Recherche und zementiert den das Buches als eines, das versiert die verschiedensten Möglichkeiten einer queeren deutschen Zukunft beleuchtet.
Fazit
Als Nachschlagewerk setzt Benno Gammerls Queer. Eine Deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute einen neuen Standard und macht sich als Ausgangspunkt für weitere Studien künftig unabdingbar! Ein spannend zu lesender und sehr bereichernder Überblick über sowie Ausblick auf queere Geschichte in Deutschland.
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