Putin's People
- William Collins
- Erschienen: April 2021
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Wer verstehen will …
Als dieses Buch im April 2020 erschien, hatte der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine noch lange nicht begonnen, und deshalb wäre ohne ihn wahrscheinlich diesem Buch der Zeitungsjournalistin Catherine Belton bedeutend weniger Aufmerksamkeit zuteil geworden, als es im Jahre 2022 dann der Fall war. Catherine Belton, Britin, geboren 1973, arbeitete – so kann man es dem erstaunlich kurzen Wikipedia-Beitrag über sie entnehmen – von 2007 bis 2013 als Moskau-Korrespondentin der Financial Times und zuvor für Business Week und Moscow Times. Sie gilt als eine intime Kennerin der russischen Politik und des Staatsapparates und stellt das mit diesem Werk eindrucksvoll unter Beweis. „Putin´s People“ wurde sowohl von der Financial Times als auch vom Economist zu einem der wichtigsten Bücher des Jahres 2020 gewählt. Es provozierte zudem nicht weniger als fünf Rechtsstreitigkeiten vor britischen Gerichten, in denen russische Oligarchen, darunter Roman Abramowitsch, sich gegen die Darstellung Ihrer Rolle beim Aufstieg Putins zur Wehr setzen. Das wird man durchaus als eine Empfehlung werten dürfen, hat doch offenbar die Autorin bei all diesen hohen Herren einen wunden Punkt getroffen.
… wie Putin tickt …
Zwei wesentliche „Erzählstränge“ ziehen sich durch dieses Buch: Zum einen zeichnet Belton mit viel Akribie und noch mehr Quellenangaben minutiös den Werdegang Putins von seiner ärmlichen Jugend in St. Petersburg (damals noch Leningrad) über seinen Eintritt in den KGB, seine erste Verwendung im Dresden der damaligen DDR, seine Rolle als stellvertretender Bürgermeister in seiner Heimatstadt bis hin zu seiner (ambivalenten) Beziehung zu Boris Jelzin und schließlich seinen Weg in das höchste Staatsamt Russlands nach. Schon in diesem Kontext wartet die Autorin mit zuvor unbekannten Details auf, die es einem eiskalt den Rücken herunterlaufen lassen. So legen Ihre Recherchen nahe, dass Putins Station in Dresden keineswegs bloß die unbedeutende Verwendung eines mittelmäßig begabten Spions in der DDR-Provinz war, wie dies die offizielle und oft wiederholte Deutung ist. Die von Belton zitierten Quellen lassen es vielmehr plausibel erscheinen, dass Putin schon damals in entscheidender Funktion an der Hilfe für die seinerzeit in die DDR geflohenen RAF-Mitglieder und ihrer (Wieder-)Einschleusung in die Bundesrepublik mitwirkte und sogar Zielpersonen wie etwa den von der RAF ermordeten Deutschbanker Alfred Herrhausen vorschlug.
Später – in seiner Zeit als stellvertretender Bürgermeister von St. Petersburg – wirkte „Wolodja“, wie er von seinen Freunden und Gönnern genannt wurde, nicht nur zusammen mit einer der größten kriminellen Vereinigungen Russlands an der Übernahme des wichtigen Ölhafens der Stadt und Zweckentfremdung westlicher Hilfsgelder mit, sondern strickte auch beharrlich an einem Netzwerk aus ehemaligen KGB-Kollegen, das später seinen Aufstieg ermöglichen sollte und das – glaubt man der Autorin – bis heute seine Macht sichert. Dabei zeichnet Belton nicht so sehr das Bild eines ehrgeizzerfressenen Machtmenschen, der gegen alle Widerstände den Durchmarsch probt, sondern eher das eines zwar äußerst skrupellosen, aber durchaus vorsichtigen, manchmal beinahe tastenden Politfunktionärs, dem Angst keineswegs fremd ist und der sich vor allem deshalb durchsetzt, weil sich ihm in den entscheidenden Momenten niemand in den Weg stellt.
… und warum der KGB in Russland noch immer das Sagen hat …
Zum anderen erzählt das Buch aber auch die Geschichte des KGB als einer Organisation, die das heraufziehende Ende des Sowjetreiches früher als die meisten anderen als unabwendbar erkannte und schon in der Zeit Andropows und später dann Gorbatschows gewaltige Geldmengen in den Westen schaffte, vor allem Gelder der sterbenden KPdSU. Auf diese Weise sicherte der KGB den Seinen trotz seiner offiziellen Abschaffung unter Jelzin das Überleben in mehr oder weniger geheimen Seilschaften, die dann auch bei der Verteilung des Volksvermögens der einstigen Sowjetunion an die zukünftigen Oligarchen eine gewichtige Rolle spielten. Mehrere Kapitel des Buches sind den verschiedenen Methoden gewidmet, mit denen der Reichtum Russlands in den sonst so verhassten Westen geschafft wurde und wohl noch bis heute geschafft wird. Auf diese Weise entstand ein billionenschwerer Krokodilfonds, russisch „Obschak“, der für allerlei inner- und außerrussische Aktivitäten verwendet werden kann, vom Bau eines milliardenteuren Palastes für den „Vozhd“ (Boss) am Schwarzen Meer bis hin zur massiven Finanzierung von ultralinken wie ultrarechten Parteien zum Zwecke der Unterminierung der so verachteten westlichen Demokratien.
Überaus erhellend ist in diesem Zusammenhang übrigens auch das Kapitel über Donald Trump und die finanzielle Hilfe, die dieser von einigen dubiosen russischen Geschäftsleuten nach einem Desaster mit seiner Spielbank in Atlantic City erhielt. Wäre diese Finanzspritze nicht gewesen, so die Autorin, wäre Trump damals pleite gegangen. Das EX-KGB Leute oder gar Putin selbst das eingefädelt haben, lässt sich schlussendlich nicht beweisen, und „The Donald“ leugnet das natürlich vehement, aber plausibel ist das nach den Recherchen Belton´s allemal.
Noch erschreckender sind die Erkenntnisse, die Belton´s Recherchen über die Zeit nach der Machtübernahme Putins nahelegen: So benennt die Autorin Quellen und Umstände, die vermuten lassen, dass die vermeintlich von Tschetschenen verübten Anschläge auf Wohnhäuser in Moskau, mit denen der erste Tschetschenien-Krieg gerechtfertigt wurden, vom Inlandsgeheimdienst FSB zu eben diesem Zweck inszeniert wurden. Und das ist bei weitem nicht der einzige Hinweis darauf, dass auch das neue Russland von den alten Eliten des KGB dominiert wird und das diese sich noch immer genau der Methoden bedienen, die sie während des kalten Krieges erlernt und kultiviert haben. Anders als noch unter Jelzin dominieren die heutigen Oligarchen Russland nicht mehr allein durch Ihren Reichtum, sondern sind – so Belton´s These – allesamt abhängig von Putin. Keiner dieser Männer (Frauen sind scheinbar nicht darunter) kann sich den Ordern Putins widersetzen, will er seinen Reichtum und seine Freiheit behalten. Und so regiert Putin heute sein Land nach Art eines Mafiapaten, der nach Gutdünken Pfründe gewähren, aber auch wieder entziehen kann. Ein entscheidender Wendepunkt bei der „Domestizierung“ dieser Superreichen war nach Ansicht von Belton dabei übrigens der Prozess gegen Michail Chodorkowsky, der es als einer der wenigen wagte, sich Putin zu widersetzen. Mit dessen Verurteilung, im Westen allenfalls am Rande beachtet, machte der „Vozhd“ ein für allemal klar, dass sich Macht und Reichtum in Russland nur mit und nicht gegen ihn erreichen lassen und dass sich alle, auch die Reichsten, schlussendlich dem Verdikt es Kreml zu unterwerfen haben.
… der sollte dieses Buch lesen!
Dieses Buch ist großartig recherchiert, fast schon wissenschaftlich und nicht bloß journalistisch (allein der Findex macht ungefähr ein Viertel der beträchtlichen Seitenzahl aus), und gewährt einen nie dagewesenen Einblick in die Machtstrukturen des Kreml. Mehr noch: Es zeigt, dass „Putins Leute“ von Beginn vor allem zwei Ziele verfolgten: Selbst reich zu werden und zudem das Russische Reich wieder groß und mächtig zu machen und es so dem verhassten Westen, der Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in ihren Augen so tief gedemütigt hatte, endlich heimzuzahlen. Womit wir wieder beim Krieg gegen die Ukraine wären: Auch wenn die Autorin diese Entwicklung nicht voraussehen konnte, so ergibt sie sich doch mit einer gewissen Zwangsläufigkeit aus den Erkenntnissen, zu denen Belton im Zuge ihrer Recherchen gelangt ist, und die fast alle im Westen so lange nicht wahrgenommen, wenn nicht gar ignoriert oder verdrängt haben.
Bei aller Wertschätzung hat dieses Buch allerdings zwei (verzeihliche) Schwächen: Es wimmelt nur so von Namen, Personen und Daten, und da die Autorin keinen rein chronologischen Ansatz wählt, ist der Text alles andere als leicht zu lesen. Aber bei der Komplexität der Ereignisse und der Fülle der Beteiligten ist das wohl unvermeidlich und das Durchkämpfen lohnt sich allemal.
Und schließlich: Viele der genutzten Quellen bleiben leider anonym. Die Autorin hat mit einer fast unüberschaubaren Fülle von jetzigen und früheren Insidern gesprochen, von denen viele Ihren Namen nicht preisgeben wollen. Aber wer die Ereignisse um Sergej Skripal, Alexej Nawalny oder den Berliner Tiergartenmord vor Augen hat, der wird dafür Verständnis aufbringen können und müssen. Merke: Wer den neuen Zaren gegen sich aufbringt, der lebt gefährlich!
Fazit
Kaum jemand im Westen versteht, warum im 21. Jahrhundert die russische Autokratie mit den kriegerischen Mitteln des 19. Jahrhunderts versucht, ein neues russisches Imperium zu errichten, und das mindestens unter Missachtung der eigenen wirtschaftlichen Interessen. Catherine Belton liefert zwar vielleicht nicht die endgültige Antwort auf dieses Enigma, aber doch eine Reihe höchst plausibler und überaus lesenswerter Erklärungen. Und nebenbei strafen ihre Recherchen all diejenigen Lügen, die heute immer noch behaupten, Russland sei vom Westen eingekreist und so zu seinem Handeln geradezu gezwungen worden.
Catherine Belton, William Collins
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