Antisemitismus ist in Deutschland kein abstraktes Thema - sondern täglich zu erleben
Levi Israel Ufferfilge hat irgendwann angefangen, seine Erlebnisse mit dem täglichen Antisemitismus in Deutschland aufzuschreiben. Dann haben seine Notizbücher schließlich nicht mehr für das ganze Jahr gereicht, sondern waren schon jeweils im Herbst vollgeschrieben. Parallel dazu hat er begonnen, seine Episoden auf Facebook und Twitter zu teilen - mit einer ständig wachsenden Leserschaft. Und nun hat er sich hingesetzt und aus seinen teilweise verstörenden Alltagsnotizen ein Buch gemacht - ebenso lesenswert wie schwer verdaulich.
Der Autor teilt seiner Leserschaft mit, er habe diese Sammlung von Erfahrungen aufgeschrieben, um der natürlichen Verdrängung entgegen zu wirken. Dabei geht er von einem Ratschlag seiner Großmutter aus, die ohnehin eine überaus wichtige Bezugsperson für ihn ist. Sie hat ihm gesagt: “Nimm dir einen Zettel und einen Stift und schreib alles auf. Das hilft.”
Antisemitismus in Deutschland ist kein historisches Relikt
Levi Ufferfilge will durch das öffentliche Teilen seiner Erlebnisse, ob auf Facebook und Twitter oder in diesem Buch, anderen Menschen zeigen, dass Antisemitismus keineswegs ein historisches Relikt, sondern auch im Deutschland der Gegenwart ein alltägliches Problem ist.
Die antisemitischen Vorfälle beruhen in aller Regel darauf, dass Ufferfilge durch das Tragen seiner Kippa als Jude sichtbar - und damit angreifbar wird. Er hat sich schon als relativ junger Mansch angewöhnt, das Haus nicht ohne seine Kippa auf dem Kopf zu verlassen. Und er deckt sie nur in Ausnahmefällen, etwa bei besonders schlechtem Wetter, durch einen Hut ab. Zuweilen bedauert er es, keinen Hut aufgesetzt zu haben - wenn es mal wieder besonders heftig oder widerwärtig geworden ist.
“Die Kippa ist nicht nur ein Stück Stoff. Sie ist ein Symbol jüdischer Zugehörigkeit, jüdischer Religion, Kultur, Geschichte, Zivilisation.”
Levi Ufferfilge präsentiert den Leserinnen und Lesern in vertraulich wirkendem Plauderton seine kleinen Geschichten - was die Lektüre noch eindrücklicher macht. Es sind kurze Abschnitte, die man einzeln lesen kann, um dann das Gelesene in Ruhe zu reflektieren. Denn das drängt sich bei den geschilderten Episoden nach meiner Meinung unbedingt auf.
Angriffe reichen von plumper Anmache bis zu körperlicher Gewalt
Es geht um plumpe Anmache, antisemitische Rufe und Sprüche, aber auch um mehr als bedrückende Drohungen - bis hin zu körperlichen Attacken. Neben den alltäglichen antisemitischen Vorfällen schildert der Autor aber auch berührende Momente, in denen ihn deutsche Mitbürgerinnen und Mitbürger mit ihrer Zuwendung und Fürsorge durchaus angenehm überraschen. Aber die aktive Anteilnahme und Sorge ist eben die seltene Ausnahme.
Die westfälische Region seiner Jugend hat Ufferfilge nach eigener Aussage eher als post-jüdisch empfunden. Die virtuelle jüdische Welt hat er kennengelernt, indem er viel amerikanisches Fernsehen geschaut hat. Neben der Schule fing er dann an, Hebräisch und Jiddisch zu lernen und jüdische Texte zu lesen - inzwischen ist er Religionslehrer und in der Ausbildung zum Rabbiner.
Erste Erfahrungen in einem Café, in dem Juden nicht bedient werden
Erste schlimme Erfahrungen machte der Autor, als er merkte, dass Juden in einem Café nicht bedient wurden. Er zog sich jedoch in der Folge nicht zurück, sondern ging ab dem Ende seiner Schulzeit nicht mehr ohne Kippa aus dem Haus. Zudem begann Ufferfilge, in Schulen und Gemeinden Vorträge zum Judentum zu halten, und eben auch Unterricht zu seiner Religion zu erteilen.
“Warum werden gerade Juden gefragt, ob sie nun gehen wollen, so als läge die einfachste Lösung für das Antisemitismusproblem beim Juden. Die Frage unterstellt doch, dass das Zuhause einer jüdischen Person beliebig ist und einfach ausgetauscht werden kann.”
Viele der berichteten Erlebnisse und Anekdoten - vor allem aus Ufferfilges Jugendzeit - haben nicht nur mit dem Thema des Buches zu tun, sondern sind schlichtweg biografische Schilderungen. Es geht um das innige Verhältnis zu seiner Großmutter, und die so ganz andere Beziehung zu seinem Vater. Der Autor berichtet auch, dass die jüdischen Gemeinden in Deutschland in ihrer Ausrichtung bunt gewürfelt seien. Außenstehenden seien die Unterschiede in der Regel allerdings völlig gleichgültig.
Die meisten der skurrilen oder unangenehmen Begegnungen hat Levi Ufferfilge während seiner Reisen mit der Bahn - im Zug oder auf den Bahnsteigen - oder schlichtweg im Supermarkt um die Ecke. Wenn er diese Begebenheiten auf Facebook oder Twitter teilt, bekommt er darauf ganz unterschiedliche Reaktionen. Daher unterlässt er zuweilen auch das Teilen. Abschließend geht er auf die Frage ein, wie man als Jude in Deutschland nach dem Attentat auf die Synagoge von Halle weiterleben könne. Seine Schlussfolgerung: “Weitermachen, wenn es wehtut”.
Fazit
“Nicht ohne meine Kippa” ist ein Buch, das man nicht so einfach wegschmökern kann. Die Leserin oder der Leser müssen sich schon auf das eindringliche Geplauder von Levi Israel Ufferfilge einlassen. Denn trotz der schweren Kost schreibt der Autor so, als sitze er mit seiner Leserschaft bei einem Becher Tee zusammen und berichte mal eben so von all diesen verstörenden Erlebnissen. Ein überaus persönliches und wichtiges Werk, das vermutlich irgendwann seine Fortsetzung finden wird - hoffentlich mit optimistischeren Inhalten.
Levi Israel Ufferfilge, Tropen
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