Hilfreiche Tipps und Erkenntnisse nach 20 Jahren Mutterschaft mit ADHS-Kindern.
Zuhause Chaos, unterwegs missbilligende Blicke: Eltern mit einem (oder vielleicht auch mehreren) ADHS-Kindern kennen es zur Genüge, wovon Ursula Frühe in ihrem Buch „Neuronengewitter“ schreibt. Situationen, in denen das eigene Kind völlig außer sich ist, überfordert mit sich und der Welt, nur noch um sich haut und schreit. Momente, wenn man in der Öffentlichkeit zum Blickfang wird, wenn an der Supermarktkasse, im Restaurant oder an Orten, an denen Ruhe erwartet wird, das Kind ein völlig anderes Verhalten an den Tag legt als die anderen anwesenden Kinder. Oft kombiniert mit subtilen Vorwürfen, dass es wahrscheinlich an Erziehungsvermögen mangelt und die Kompetenz zum Grenzensetzen fehlt. Schuldzuweisungen an die Eltern gehören nicht selten zum Alltag. Wie dennoch ein erfülltes (Familien-)Leben gelingen kann, erzählt die Autorin in 12 Kapiteln.
Wenn sich alles nur noch um ADHS dreht
Nach einer knappen Einleitung, in der neben Ursula Frühe auch Prof. Dr. Andreas Reif ein kurzes Statement zum Thema abgibt, geht es direkt mit dem ersten Kapitel los, in dem die Autorin die komplizierte Geburt und die erste Zeit mit ihrem ersten Sohn beschreibt. Im nächsten Abschnitt geht es dann mit dem Thema „Schuld“ am Verhalten des eigenen Kindes weiter, die einem laut Ursula Frühe als Eltern und insbesondere als Mutter eines ADHS-Kindes immer wieder zugewiesen wird.
Im nächsten Kapitel „Schule“ spricht sie explizit Eltern von betroffenen Schulkindern an. Neben ihren Erfahrungen wird hier auch auf das deutsche Schulsystem eingegangen, welches durch seine frühe Notenvergabe und Separierung oft starke Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl der Kinder hat, erfahren sie doch oft täglich, den Ansprüchen nicht zu genügen und mit ihrem Verhalten überall anzuecken, egal wie sehr sie auch versuchen, sich zusammenzureißen. Im nächsten Abschnitt „Ritalin und Co“ geht Ursula Frühe auf die Medikamentengabe ein. Ein Thema mit vielen Vorurteilen, das von der breiten Masse immer noch oft als Drogenverabreichung angesehen wird, welche nur dazu dient, die Kinder ruhig zu stellen, um es als Eltern möglichst einfach zu haben. Wie wichtig Medikamente hingegen sein können und welche Wende sie für die Betroffenen oft bedeuten, erklärt sie anschaulich.
Was neben Medikamenten ihrer Erfahrung nach noch wichtig ist, folgt in den Kapiteln 5 und 6, in denen sie die Themen „Multimodale Therapie“ und „Bewegung“ anspricht. Besondere Hürden, die ihr Familienkonstrukt stark strapaziert haben, beschreibt sie in den Abschnitten „Gegenanzeigen“, „Pubertät“ und „Erwachsenwerden“. Davon, dass die ganzen Sorgen und Strapazen auch an ihr nicht spurlos vorbeigegangen sind, berichtet sie in „Endstation“, was glücklicherweise nicht auch das Ende bedeutete, wie man anschließend in den Kapiteln „Wendepunkt“ und „Zukunft“ erfährt, in denen sie anderen betroffenen Eltern Mut macht und die Entwicklung der Gesellschaft im Hinblick auf die immer präsenteren Begriffe Diversität und Neurodivergenz aus verschiedenen Blickwinkeln kritisch betrachtet und in ihnen sowohl Risiken als auch Chancen sieht.
Ein harter und langer Weg
Als Mutter dreier Söhne, von denen zwei die Diagnose ADHS haben und einer inzwischen über 20 Jahre alt ist, weiß Dagmar Frühe, welche Auswirkungen ADHS auf das Leben von Kindern in Schule und Alltag haben kann und auch welche Probleme im Familienalltag häufig auftauchen. Sie kennt die Vorurteile von Außenstehenden und hat oft genug erfahren, wie einem als Eltern mangelnde Erziehungskompetenz zugeschrieben wird und wie das innere Schuldgefühl an den Problemen des Kindes mit jedem kritischen Blick und Kommentar stetig wächst. Auch an ihr ist dieser andauernde Stress- und Krisenzustand nicht spurlos vorbeigegangen. Durch die jahrelange Fürsorge für ihre Kinder, die über ihre eigene Kapazität hinausgingen, trat die eigene Gesundheit und das eigene Wohlbefinden immer mehr in den Hintergrund, bis sie schließlich erkannte, dass es so nicht weitergehen kann und sie beginnen muss, endlich wieder mehr für sich einzustehen. Dass das nicht einfach ist, viele Rahmenbedingungen in der Gesellschaft nach wie vor nicht familienfreundlich sind und man oft in der „Machbarkeitsfalle“ landet, einen hohen Preis zahlen muss, weiß sie.
Ein wichtiger Punkt, den sie in den vielen Jahren mit ihren Kindern gelernt hat, ist, sich rechtzeitig Hilfe zu holen und alle Möglichkeiten auszuschöpfen. War ein Klinikaufenthalt für sie im Hinblick auf ihren Sohn lange eine große Hürde, brachte dieser doch Besserung für alle. Auch ihre neue Einstellung zu ihr selbst half ihrem Sohn, endlich Verantwortung für sich zu übernehmen, sich vom Elternhaus abzulösen und Schritt für Schritt in die Selbstständigkeit zu kommen, als er von seiner Familie „nicht mehr als Patient gesehen“ wurde, wie sie es nennt. Er reist alleine nach Cambridge, muss dort alleine Probleme lösen und macht sein Abitur am Gymnasium, wofür ihm lange die emotionale Stabilität fehlte, die ihm den Zugriff auf seine intellektuelle Kapazität verwehrte.
Liest sich Ursula Frühes Buch doch über lange Strecken wie eine lange Reihe an Krisen und immer neuen Tiefschlägen, zeigt ihr Ende dann doch, dass „ein gutes Leben trotz oder gerade auch mit ADHS möglich ist“, wie sie es nennt. Für Eltern, die sich noch am Anfang dieses Weges befinden, vielleicht gerade erst die Diagnose erhalten haben oder noch davor stehen, kann das Buch dennoch erstmal eine ziemliche Ernüchterung sein, zu lesen, was einen eventuell noch alles erwartet. Andererseits können die Erfahrungen der Autorin, frühzeitig genug gewusst, vielleicht auch helfen, so manche Krise zu vermeiden, indem sich rechtzeitig die passenden Hilfen geholt werden. So dass betroffene Eltern auch sich im Fokus haben und ihre mentale sowie körperliche Gesundheit im Auge behalten, um für sich und eventuelle Geschwister stark bleiben zu können.
Fazit
Wer ADHS einmal nicht aus wissenschaftlicher Sicht, sondern aus der Sicht einer jahrelang „mitbetroffenen“ Mutter betrachten möchte, ist bei „Neuronengewitter“ genau richtig. Ursula Frühes Roman zeigt die Realität vieler Familien mit einem oder mehreren ADHS-Kindern. Sie geht auf die Gefühle und Sorgen der Eltern ein, nimmt ihnen Schuldgefühle und macht am Ende Hoffnung, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken.
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