Monsieur Orient-Express

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Michael Drewniok
8101

Sachbuch-Couch Rezension vonMär 2023

Wissen

Rekel geht über das Biografische hinaus und bettet Nagelmackers Leben in die Zeitgeschichte ein.

Ausstattung

Viele der von renommierten Künstlern gestalteten Werbeplakate werden in diesem Buch gezeigt, dessen Text überhaupt viele Fotos - schwarzweiß und farbig - begleiten.

Der Weg ist das (luxuriöse) Ziel

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewann die Eisenbahn immer größere Bedeutung. Wie heutzutage das Flugzeug verband sie Orte und Länder, die bisher nur unter großen Mühen und erheblichem Zeitaufwand zu erreichen waren. Allerdings gab es Einschränkungen, die das Reisen mit dem Zug in ein Abenteuer verwandelten: Im Vordergrund stand der Transport von A nach B. Bequemlichkeit blieb außen vor. Die Waggons waren karg eingerichtet, schlecht oder gar nicht geheizt. Speisen und Getränke musste man mitbringen, und Toiletten gab es nicht.

Der Belgier Georges Nagelmackers (1845-1905) war nicht der erste, dem diese Mängel auffielen. In Europa wurde er zum Pionier einer Luxus-Offensive, die das Reisen in ein Erlebnis verwandelte. Bereits der Aufenthalt im Zug sollte Behaglichkeit generieren - ein Konzept, das Nagelmackers seit 1870 mit einer Entschlossenheit verfolgte, die das ‚Fahren‘ mit der Eisenbahn auf ein nie gekanntes Niveau hob.

Immer musste er mit Schwierigkeiten und finanziellen Engpässen kämpfen. Die zeitgenössischen Staaten wachten eifersüchtig über ihre Schienennetze, die nicht selten unterschiedliche Spurbreiten aufwiesen. Bevor Nagelmackers seinen Traum vom „Orient-Express“ verwirklichen konnte, der zwischen Paris und Istanbul fahren sollte, musste er sich mit neun staatlichen Verwaltungen auseinandersetzen, die allein ihr Starrsinn einte. Hinzu kamen technische Probleme, denn Nagelmackers ließ erst Schlaf-, dann Speisewagen und schließlich ‚normale‘ Passagierwaggons bauen, die an rollende Luxusdampfer erinnerten.

Im Laufe dreier Jahrzehnte entstand ein Europa, Kleinasien und Russland umspannendes Imperium, das auch Nordafrika einschloss und schließlich sogar das unendlich ferne Peking erreichte. Nagelmackers sah den Ferntourismus voraus. Entlang ‚seiner‘ Strecken ließ er prachtvolle Hotels bauen und bot den Reisenden ein Rundum-Versorgungs- und Unterhaltungspaket an, was 1928 in der Übernahme des legendären Reisebüros „Thomas Cook and Son“ gipfelte.

Unermüdlich trieb Nagelmackers seine Projekte voran, worunter sein Privatleben und seine Gesundheit litten. Nachdem er seine Firma beinahe in den Ruin getrieben hatte, wurde er weitgehend entmachtet. Erschöpft und ausgelaugt starb er mit nur 60 Jahren, doch seine Firma überlebte ihn und die Krise.

Der Prophet gilt wenig im eigenen Land

… was sich nur scheinbar als Binsenweisheit erweist, weil Kritiker u. a. ‚Fachleute‘, die es immer schon besser wussten, auch und gerade über erfolgreiche Zeitgenossen richten, die in eine Krise geraten. Zeit seines Lebens musste Georges Nagelmackers gegen eine gummiwandähnliche Front aus Zweiflern, Neidern und Konkurrenten kämpfen, zu denen sich der eigene Vater gesellte.

Der österreichische Autor Gerhard J. Rekel erzählt die relativ kurze, aber ereignisreiche Lebensgeschichte eines Mannes, der technische und administrative Probleme anging und löste und dabei anders als die Mehrheit seiner Zeitgenossen über Landesgrenzen hinausdachte. Wie jeder Pionier zahlte er einen hohen Preis für seinen Alleingang. Von seiner Vorarbeit profitierten spätere Generationen, während Nagelmackers Leben vorzeitig und tragisch endete: Als Visionär hatte er seine Geldgeber und Aktionäre zu lange geängstigt. Sie suchten den schnellen Gewinn, er hatte den Fortschritt im Visier. Lange ging der daraus resultierende Interessen-Seiltanz gut, aber letztlich holten ökonomische und politische Probleme, gegen die Nagelmackers machtlos war, den lange hofierten und dann geschmähten „Phantasten“ ein.

Doch sein Werk überlebte den Gründer. Man kann Nagelmackers nur bewundern, wenn Rekel jene Kette von Herkulesaufgaben schildert, der sich dieser Mann stellte. Dabei hätte er sich ein behagliches Leben machen können: In der Familienbank oder den familieneigenen Erzbetrieben waren Nagelmackers hohe Posten sicher. Aber er brach aus und traf beruflich wie privat eigene Entscheidungen, was ihm seine Familie lange und manchmal nie vergaß.

Die Welt rückt zusammen

Rekel geht über das Biografische hinaus und bettet Nagelmackers Leben in die Zeitgeschichte ein. Ende des 19. Jahrhunderts begann die Welt zu ‚schrumpfen‘. Erst das Überseeschiff und nun die Eisenbahn ließen die rasche Überwindung großer Entfernungen zu. In der Praxis sorgte dies für gewaltige Anlaufschwierigkeiten. Rekel schildert, wie Nagelmackers in diesem Umfeld plante und sich oft einfallsreich und geduldig Lösungsmethoden einfallen ließ, ohne auf Vorgängerwissen zurückgreifen zu können.

„He did it his way“, und wie Frank Sinatra in seinem berühmten Song durchblicken lässt, scheiterte auch Nagelmackers immer wieder. „Learning by Doing“ ist jedoch keine Option, wenn weniger fortschrittlich denkende, sondern nur reiche Leute hohe Geldsummen in ein Unternehmen investieren. Nagelmackers ging stets ins Risiko, weil er begriff, dass er seine Visionen nur auf diese Weise umsetzen konnte. Rekel geht auf seine Frustrationen und die ständigen Kämpfe ein, die daraus resultierten. Viel Feind, viel Ehr‘: Zu denen, die ihn benutzten und betrogen, gehörte sogar der belgische König.

Weniger ausführlich sind die Informationen über Nagelmackers Privatleben. Allerdings gab es dies ohnehin kaum; die Arbeit folgte dem Eisenbahnpionier bis ins nur bedingt traute Heim. Raum gibt Rekel einer komplizierten Liebesgeschichte, denn Nagelmackers verliebte sich in eine zuvor bereits verheiratete und nachweislich lebenslustige Frau - ‚beschädigte Ware‘ in den Augen einer sittenstreng-bigotten Gesellschaft,

Der Traum vom Orient

Obwohl er schon lange nicht mehr existiert, ist der Orient-Express im kollektiven Gedächtnis verankert. Damit der Prunk jenen, die sich danach sehnten, in einem fahrenden Luxushotel zu reisen, nicht entging, rührte Nagelmackers eifrig die Werbetrommeln und erwies sich auch auf diesem Feld als Wegbereiter. Viele der von renommierten Künstlern gestalteten Werbeplakate werden in diesem Buch gezeigt, dessen Text überhaupt viele Fotos - schwarzweiß und farbig - begleiten.

Rekel erinnert daran, dass der Orient-Express auch Teil der Literatur- und Filmgeschichte geworden ist. Agatha Christies Meisterdetektiv Hercule Poirot löst einen seinen berühmtesten Fall an Bord dieses Zuges. Auch andere (Drehbuch-) Autoren nutzten die Gelegenheit, ihren Geschichten Dramatik einzuhauchen, weil sie in einem fahrenden Zug spielen, den man nicht verlassen kann, so dass Konflikte ausgetragen werden müssen.

Fazit

Biografie eines Mannes, der zu Unrecht ein wenig aus dem Blickfeld geraten ist. Obwohl sich Georges Nagelmackers ausschließlich den gut betuchten Reisenden widmete, suchte und fand er Methoden, die den noch wenig definierten Individualverkehr auf Schienen generell voranbrachten: informativ, gut lesbar und anschaulich bebildert.

Monsieur Orient-Express

Gerhard J. Rekel, Kremayr & Scheriau

Monsieur Orient-Express

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