Die Welt hält den Atem an.
Manchmal lässt sich Geschichte auf einen bestimmten Moment zuspitzen. Von einem Augenblick zum nächsten - so wirkt es jedenfalls in der Rückschau - fallen die Würfel neu und lassen eine scheinbar solide in sich ruhende Situation ins unaufhaltsame Rutschen geraten. Ein solches Geschehen spielt sich meist im überschaubaren Rahmen ab. Es gibt jedoch wahrhaft monumentale Wendepunkte, die im Extremfall die gesamte Welt in Aufruhr versetzen. So ein „Momentum“ datiert auf den November 1942.
Drei Jahre zuvor hatte das nationalsozialistische „Deutsche Reich“ unter seinem „Führer“ Adolf Hitler einen zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen. Nach und nach hatte dieser beinahe den gesamten Globus erfasst. Entweder kämpfte man direkt gegeneinander, oder es ging darum, Nachschublinien zu sichern bzw. zu unterbrechen. Zu Lande, zu Wasser und in der Luft hatte der deutsche „Blitzkrieg“ beinahe sämtliche Länder Mitteleuropas zu Fall gebracht. Im Osten hatten Wehrmacht und SS beinahe Moskau erreicht. Selbst Nordafrika war weitgehend in nazideutscher Hand. Juden und andere vom Regime verfolgte Gruppen wurden in Konzentrationslagern industriell ermordet.
Doch die Geschwindigkeit des Vorstoßes hatte sich zuletzt vermindert. Die deutsche Kriegsmaschine war überfordert, während die zunächst überraschten und überrannten Gegner zu Atem gekommen waren. Vor allem in den USA entstand Kriegsmaterial in einem Tempo, dem das deutsche Militär nichts entgegenzusetzen hatte. An sämtlichen Fronten in Europa sowie in Nordostasien und Ozeanien, wo das mit den Nazis verbündete Kaiserreich Japan für eigene Gräuel sorgte, standen nunmehr frisch ausgebildete und gut ausgerüstete Soldaten zahlenstark den bisher überlegenen Gegnern gegenüber.
Im November 1942 schien die kriegsverheerte Welt den Atem anzuhalten. Beinahe sämtliche Fronten standen still; man wartete. Dass etwas Entscheidendes bevorstand, war allen Beteiligten bewusst. In Deutschland sorgte die Propaganda für aufgebauschte Erfolgsmeldungen, doch hier sowie in allen betroffenen Ländern lasen die Menschen zwischen den Zeilen und erkannten, dass der Krieg vor einer Wende stand ...
Kaleidoskop
Es braucht sowohl einen langen Atem als auch den Mut zur Lücke, will man Geschichte als ‚logischen‘ Ablauf präsentieren. Dies gilt erst recht, wenn buchstäblich der gesamte Erdball im Betrachtungsfokus steht. Historie ist nicht in Stein gemeißelt, sondern ein Gemenge von Ereignissen, die sich durchaus formen lassen. Oft wird Geschichte von Gewinnern geschrieben; dies wurde sogar zu einem Sprichwort. Sie wird interpretiert, aber auch manipuliert, wobei der jeweilige Autor die Intention bestimmt. Objektivität ist ein fragiles bzw. fragwürdiges Gut. „Momentum“ stellt keine Ausnahme dar.
Peter Englund hat sich nicht nur geografisch viel vorgenommen. Er möchte die Weltsituation im November 1942 schlaglichtartig, aber repräsentativ beleuchten. Dabei stützt er sich auf Zeitzeugen. Zahlreiche aktive Teilnehmer, aber auch Opfer oder nur Zeugen des Zweiten Weltkriegs haben ihre Erlebnisse und Erfahrungen in Wort und Bild festgehalten. Englund fand und sammelte solche Aufzeichnungen, wobei er nicht zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘ unterschied. Alle kommen sie zu Wort, wobei Englund die Auswahl trifft und diese Informationen dabei inszeniert und vereinheitlicht.
Englund ist nicht ‚nur‘ Historiker, sondern lehrt als Dozent der Universität in Stockholm ein weniger bekanntes Fach namens „Historische Narratologie“. Hier kann man lernen, wie man private Aufzeichnungen, die stets persönlich geprägt und gefärbt sind, auf jene Informationen abklopft, die ihnen wertvoll innewohnen: Geschichte wird durch Menschen lebendig, aber eben auch subjektiv gewertet. Dies gilt für Zeitgenossen – und natürlich für Historiker. (Man denke beispielsweise an Walter Kempowski und sein „Echolot“-Projekt.)
Epos
Die „Historische Narratologie“ wagt sich wissentlich auf dünnes Eis. „Momentum“ ist kein möglichst dokumentarisches Sachbuch, dessen Autor Emotionen entweder strikt ausschließt oder als solche deutlich kennzeichnet. In einem ausführlichen Vorwort erläutert Englund, auf welche Quellen er zurückgreift, und macht deutlich, wie er mit ihnen arbeitet. „Monumentum“ erstaunt durch buchstäblich literarische Qualitäten und hier in erster Linie durch einen ‚Unterhaltungswert‘, der dem ernsten Thema eigentlich nicht angemessen scheint. Englund setzt in der Tat auf Methoden, die wir eigentlich in einem Roman erwarten. Er sorgt für Spannung, verdichtet oder paraphrasiert. Gleichzeitig ‚springt‘ er von Zeitzeuge zu Zeitzeuge, von einem Kriegsschauplatz zum nächsten, von Kontinent zu Kontinent: „Monumentum“ ist eine Sammlung eindringlicher (und/oder eindringlich inszenierter) Momentaufnahmen; 360 an der Zahl, wie dem Originaltitel zu entnehmen ist.
Männer und Frauen lässt Englund zu Wort kommen. Er verwandelt ihre Geschichten in ‚historische Prosa‘. Englund blendet ‚Prominenz‘ bewusst aus und konzentriert sich stattdessen auf die ‚kleinen Leute‘, die an den zahlreichen Fronten kämpften, aber vor allem warteten, gefangen waren und mit logistischen Problemen sowie ihren Ängsten beschäftigt waren. Hinzu kommen die Stimmen derer, die an den „Heimatfronten“ für Nachschub und Stabilität sorgten, während sie um Familienmitglieder und Freunde bangten, die weit entfernt taten, was offenbar getan werden musste.
Was dies im Detail bedeutete, wurde weltweit zensiert: Niemand sollte erfahren, wie gefährlich und grausam dieser Krieg geführt wurde, weil dies die Anwerbung allzu wissenden Kanonenfutters gefährdet hätte. Englund zitiert aus den Aufzeichnungen meist ebenso kriegsentschlossener wie ratloser Männer und Frauen, die sich selbst Mut zureden und glauben wollen, was man ihnen obrigkeitlich vorgaukelt. Dem stellt der Autor die Erinnerungen unmittelbar Beteiligter gegenüber, die als Frontkämpfer, Kriegsgefangene, KZ-Insassen oder Nachschublieferanten den Tod in unzähligen Variationen kennenlernten.
Draufsicht
Hin und wieder mischen sich bekannte Stimmen in Englunds Chor ein. Sophie Scholl, Albert Camus oder Ernst Jünger machen deutlich, dass auch sie mit einer Situation überfordert waren, die sich jeglicher Rationalität entzog. Englund stellt heraus, dass es in diesem Krieg keinen klassischen Heldenmut gab und geben konnte. Wer sein Leben aufs Spiel setzte, tat dies entweder unter Todeszwang oder ohne Nachdenken. ‚Große Taten‘ wurden in der Regel nachträglich von einer Propaganda gebastelt, die zwar in Nazideutschland besonders tückisch, aber auch auf alliierter Seite allgegenwärtig und ebenfalls verlogen war. Englund legt Wert auf die Unterscheidung von Realität und Kriegsfiktion, weshalb er u. a. über die Dreharbeiten zu einem Routine-Hollywoodfilm berichtet, der diese Diskrepanz ungewollt, aber perfekt widerspiegelt: „Casablanca“ mit Humphrey Bogart und Ingrid Bergman.
Die Darstellung klingt mit dem November 1942 aus, denn die Würfel sind gefallen. In einem Epilog informiert uns Englund darüber, was mit den Menschen geschah, deren Erinnerungen er aufgriff. Viele starben in den noch folgenden Kriegsjahren, andere blieben vom Erlebten bzw. Überstandenen lebenslang gezeichnet.
„Momentum“ beinhaltet drei Bildstrecken, die seltsam gleichgültig lassen, weil sie die Unmittelbarkeit des zeitnah schriftlich festgehaltenen Schreckens vermissen lassen. Sicherlich liegt es auch an Englunds schriftstellerischem Talent, dass sich eine ‚zweidimensionale‘, d. h. unter dem Staub der Jahrzehnte verblasste Draufsicht in unmittelbare, berührende Geschichtsschreibung verwandelt.
Fazit
In kurzen Kapiteln, die unmittelbare Zeitzeugen zu Wort kommen lassen, lebt jenes „Momentum“ auf, als sich der Zweite Weltkrieg entschied. Ungeachtet der Gefahr einer ahistorischen, weil auf den dramatischen Effekt getrimmten Geschichtsschreibung gelingt es dem Verfasser, sein Thema plausibel und über die gesamte Distanz lesenswert herauszustellen.
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