Mit offenem Blick

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Yannic Niehr
8101

Sachbuch-Couch Rezension vonOkt 2020

Wissen

Der Text könnte besser aufbereitet sein, der Inhalt ist jedoch bemerkenswert.

Ausstattung

Das Cover ist stimmungsvoll und passend. Der Anhang bietet ausführliche Anmerkungen und Quellen. Weitere Materialien (wie z.B. Abbildungen) sind leider nicht enthalten.

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Die Welt im Wandel

Eines steht fest: Die Globalisierung und zunehmende Migrationsbewegungen sind unumkehrbare Prozesse, die unsere Welt auch in den kommenden Jahren weiterhin rasant verändern werden. Dadurch kommt es natürlich auch immer wieder zu Kontaktpunkten zwischen unterschiedlichen Kulturen, die ungeahnte Konfliktherde beherbergen und eine Gesellschaft vor ungeahnte Herausforderungen stellen kann. Umso wichtiger ist es im Angesicht dieser Herausforderungen, zu reflektieren, wie diese Begegnungen am fruchtbarsten gemeistert werden können. Kulturwissenschaftler Gerhard Schweizer leistet mit diesem überschaubaren Band seinen eigenen Beitrag.

„In keinem der europäischen Staaten gibt es noch die Heimat, sondern viele Heimaten nebeneinander“

Mit offenem Blick ist zwischen einem Informationen zusammentragenden Sachbuch, einem gesellschaftspolitischen Essay und einem philosophisch angehauchtem Erfahrungsbericht angesiedelt. Die einzelnen Textabschnitte, die jeweils unterschiedliche Themengebiete behandeln und zum Teil eigene Arbeitshypothesen in den Raum stellen, sind im Großen und Ganzen recht übersichtlich gegliedert:

Nach einer kurzen Einleitung lautet der erste Abschnitt „Begegnungen mit dem touristischen Ich“. Als Empirischer Kulturwissenschaftler hat Schweizer bereits unzählige Male die verschiedensten Orte bereist. Diesen reichhaltigen Erfahrungsschatz nutzt er als Grundlage, auf der er seine weiterführenden Gedanken aufbaut. Interessant ist dabei, dass er oftmals seine eigenen Reisetagebücher von vor Jahrzehnten aus seinem heutigen Blickwinkel nochmals kommentiert. Diese Passagen sind die persönlichsten des Buches, gleichzeitig aber auch die ziellosesten. Gut herausgearbeitet werden jedoch die sehr unterschiedlichen Ansätze zum Reisen an sich, das eben oft auch eine Privilegienfrage ist – denn es ist ein Unterschied, ob man selbstbestimmt reisen „darf“ oder ob man aufgrund der Umstände reisen „muss“ – und die Ursprünge des westlich geprägten Verständnisses von Fernweh im Bürgertum des 19. Jahrhunderts. Die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung des Touristen im Angesicht verschiedener Epochen und Kulturkreise steht hier im Zentrum - aber auch die Erwartungshaltung des Reisenden, wie diese durch die eigene Prägung vorgeformt ist und wie sie die Wahrnehmung beeinflussen kann (man vgl. z.B. Edward Saids Begriff des „Orientalismus“). Beim ersten Erleiden eines Kulturschocks sei es also oftmals ratsam, zunächst diesen Wahrnehmungsrahmen kritisch zu hinterfragen.

„Wie fremd bleibt letztlich das Fremde?“

Die folgenden Abschnitte „Beginn einer Völkerwanderung“ sowie „Soziale und religiöse Krisen“ sind die wohl inhaltlich dichtesten. Nachdem das vorangegangene Kapitel ein gewisses Fundament gelegt hat, kann Schweizer hier nun aus dem Vollen schöpfen und beleuchtet verschiedenste globalpolitische Vorgänge, wie z.B. (um nur einige zu nenne) die ideologischen und religiösen Krisen im Nahen Osten, das oftmals ambivalente Verhältnis von „Schwellenländern“ zu Europa (vs. dessen Selbstverständnis) und das (nicht zuletzt auch aufgrund der Klimakatastrophe zukünftig wohl noch zunehmenden) globalen Flucht- als auch Migrationsphänomens. Vieles scheint sich zwar auf den ersten Blick zu wiederholen oder trotz Ankündigung des Autors, später darauf zurückzukommen, nicht vertieft zu werden, spannenderweise werden hier jedoch auch selten beleuchtete Hintergründe erläutert. Schweizer liefert u.a. Anhaltspunkte für die Annahme, dass die heutigen Globalisierungsprozesse in Teilen von dem, was wir gemeinhin als die „westliche Welt“ bezeichnen, ins Rollen gebracht wurden und nun, da die langfristigen Konsequenzen immer unüberschaubarer werden, bezüglich des Umgangs mit diesen Prozessen und ihrer Historie ein grundlegendes Umdenken unabdingbar sein könnte. Gleichzeitig werden hier auch die oftmals rapiden Entwicklungen vor Ort (sprich: in aus europäischer Sicht „fernen“ Teilen der Welt) mit in Betracht gezogen, die sonst eher selten diskutiert werden, um neue Denkansätze zu ermöglichen und auch Chancen aufzuzeigen. Die Balance zwischen einem objektiven, wissenschaftlich-neutralen Blick und passioniertem Appell gelingt Schweizer hierbei (ist die Gewichtung auch etwas schwammiger als in anderen Teilen des Buches) zum Glück fast durchgehend. Ob der Flut an Informationen können diese Passagen allerdings überfordern.

„Es bietet sich mehr als je zuvor die Möglichkeit, das Andersartige fremder Kulturen detaillierter als bisher wahrzunehmen und auf dieser Basis einen Dialog der Kulturen auf Augenhöhe zu beginnen“

Auch im letzten Abschnitt „Zusammenprall der Kulturen“ lässt Schweizer wieder viele eigene Beobachtungen mit einfließen und nennt Beispiele aus seinem Wiener Alltagsleben, die Ideen dafür liefern, wie eine Gesellschaft Multikulturalismus – oder (aufgrund der mittlerweile häufig problematischen Besetzung des Begriffes) besser: kulturellen Pluralismus – in der Praxis leben kann. Diese Kapitel liefern die stimmigste Symbiose zwischen kompetenter kulturwissenschaftlicher Erörterung von Zusammenhängen bzw. Kontexten und essayistisch-persönlichem Tonfall, der allerdings immer differenziert, anstatt bloß zu relativieren. In diesen Passagen wird der Autor dem Anspruch seines eigenen Buchtitels am ehesten gerecht und liefert hier fundierte Erkenntnisse sowie überzeugend vorgebrachte Ansichten.

Glücklicherweise enthält das Buch auch einen anschaulichen Epilog, der zwar nicht direkt als Zusammenfassung dient (was hilfreich gewesen wäre), aber die vorangegangenen rund 280 Seiten als Ausgangspunkt nutzt, um weitere zukünftige Probleme (aber auch mögliche Lösungen) aufzuzeigen, die uns aufgrund der geschilderten Sachverhalte als Gesellschaft in Zukunft erwarten könnten. Die Corona-Krise, deren Konsequenzen zum jetzigen Zeitpunkt noch gar nicht voll absehbar sind, ist nur eine dieser Baustellen. So bleibt man am Ende des Buches mit vielen offenen Fragen an die Zukunft zurück. Einen ebenso offenen Dialog will Schweizer jedoch damit anstoßen, denn dieser sei für die weitere Entwicklung der Welt unverzichtbar. Damit ist das Werk letztendlich nicht durchweg stimmig, aber eröffnet hochaktuell wichtige und lesenswerte Perspektiven.

Fazit

Die tatsächliche „Anleitung“ zur Begegnung mit fremden Kulturen bleibt Gerhard Schweizer der Leserschaft schuldig, aber vielleicht findet sich diese auch in der Beschaffenheit des Textes selbst: Informationen bieten einen Schlüssel zu Sensibilisierung und mehr gegenseitigem Verständnis! Deren schiere Fülle in diesem Buch ist extrem und leider nicht immer auf eine Art und Weise strukturiert, die für ihre Verarbeitung sinnvoll wäre. Dennoch handelt es sich bei Mit offenem Blick um einen informativen wie unterhaltsamen Ratgeber, dem ein Großteil der Leserschaft viel neues Wissen sowie einen geschärften Blick abgewinnen dürfte, und auf den gelegentlich zurückzugreifen sich lohnt.

Mit offenem Blick

Gerhard Schweizer, Klett-Cotta

Mit offenem Blick

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