Blick aus einer anderen Perspektive.
Hannah Goslar wurde am 12.11.1928 in Berlin geboren. Ihre orthodoxe Familie war wohlhabend; die Einhaltung der jüdischen Traditionen und Vorschriften war genauso wichtig, wie eine gutbürgerliche Erziehung. 1933 floh Hannah mit ihren Eltern nach Amsterdam, wo sie ein weniger privilegiertes, aber dennoch schönes Leben führte, bis sie 1943 in das Durchgangslager Westerbork und 1944 ins Konzentrationslager Bergen-Belsen kam. Dort traf sie ihre allerbeste Freundin aus glücklichen Kindheitsjahren wieder – Anne Frank. Doch bald war Anne nicht mehr da – einfach weg. Hannah und ihre 1940 geborene Schwester Gabi sind die einzigen Überlebenden der Familie Goslar und auch aus dem Freundeskreis um Hannah und Anne kamen nur wenige aus den Konzentrationslagern wieder zurück. 1947 emigrierte Hannah ins britische Mandatsgebiet Palästina. Bis zu ihrem Tod im Oktober 2022 wohnte sie in Jerusalem und berichtete bis zum Schluss von der Shoah, damit es ein ewiges „Nie wieder“ gibt und Anne Franks Vermächtnis nicht ins Vergessen gerät.
Co-Autorin Dina Kraft
„Hannah war sich sehr bewusst, welche bedeutsame Rolle sie als eine der letzten überlebenden Zeitzeuginnen des nationalsozialistischen Genozids an den europäischen Juden spielte“ und sie war die Freundin von Anne Frank, dem wohl bekanntesten Opfer der Shoah, was Hannahs Berichten eine weitere Gewichtung gab. Es war notwendig, ihr Leben zu Papier zu bringen! Doch die bereits über 90-Jährige brauchte Hilfe bei der Verfassung ihrer Memoiren. Im Frühjahr 2022 begann Dina Kraft ihre Arbeit als Co-Autorin. Dina Kraft ist eine israelische Journalistin, die für namhafte Zeitungen schreibt und als Auslandskorrespondentin gearbeitet hat. Für Hannah Goslar wurde sie zur Ghostwriterin. Sie ließ Hannah erzählen, der immer wieder „ein neuer Aspekt“ oder lange verschüttete Erinnerungen und Details einfielen und machte daraus Hannahs Geschichte. Kraft war bewusst, dass sie gegen die Zeit anschreibt, denn Hannah wurde immer schwächer. „Meine Freundin Anne Frank“ erschien dann leider auch posthum, wurde aber zu einem Zeugnis von inniger Freundschaft und starkem Überlebenswillen.
Zwei ganz normale Mädchen
Dina Kraft schafft es, Hannahs Berichte und Gedanken zu einer packenden Geschichte zu formen. Dabei steht aber nicht die Freundschaft mit Anne im Mittelpunkt, sondern das Leben als Jüdin in Amsterdam im Allgemeinen. Es ist erschütternd zu lesen, wie den Juden immer mehr Rechte genommen wurden, bis sie nur noch Niemande waren, die es zu vernichten galt. Doch bis dahin waren Anne und Hannah zwei ganz normale Mädchen, die zusammen spielten und sich manchmal auch zankten. Dabei ist eine neue Sicht auf Anne Frank sehr erfrischend, die man bisher hauptsächlich durch ihr Tagebuch kennen dürfte. „Gott weiß alles, aber Anne weiß es besser“ - dieser Ausspruch von Hannahs Mutter sagt schon viel über Annes Charakter aus. Willensstark, sehr intelligent, aber auch dominant und fordernd war sie das ganze Gegenteil zur schüchternen und ängstlichen Hannah. Die Schilderung dieser Freundschaft, auch die Verbindung zu anderen Mädchen, ist ein sehr eindrücklicher Bericht und gleichzeitig eine Mahnung, dass wir eigentlich alle gleich sind.
Eine Art Fortsetzung von Annes Tagebuch
Anne bekommt zum 13.Geburtstag ein Tagebuch geschenkt, eben jenes, dessen Inhalt mittlerweile die ganze Welt kennen dürfte. Kurz nach dem Fest verschwinden Anne und ihre Familie. Ab jetzt kommt eine neue Sicht der Dinge ins Spiel – die Perspektive von Hannah, die glaubt, Anne sei in die Schweiz geflohen und dort sicher. Mit dem Wissen aus Annes Tagebuch ist es noch einmal so interessant und tragisch, wie Hannah alles erlebt. Man kann aber nun auch den Bericht von Anne ganz anders begreifen, denn auch sie erwähnt ihre Freundin Hannah mehrmals in den Schilderungen über ihren Alltag im Versteck. Und man ist Anne und ihrer Schwester Margot auch nach dem Ende des Tagebuches noch einmal ganz nah. Die kurzen Kontakte zwischen Hannah und Anne in Bergen-Belsen, getrennt durch einen undurchsichtigen Zaun, machen die letzten Tage der beiden deutlich. Man muss sich auf sehr bewegende Momente einstellen, die unter die Haut gehen. Und auch Hannahs Schilderungen über die Bemühungen von Annes Vater seine Töchter wieder zu finden und später die Probleme Annes Tagebuch zu veröffentlichen, machen „Meine Freundin Anne Frank“ teilweise zu einer Art Fortsetzung von Annes Tagebuch. Aber nicht nur diese und überhaupt die Freundschaft mit Anne machen „Meine Freundin Anne Frank“ absolut lesenswert. Dina Kraft nimmt sich selbst komplett zurück und lässt Hannah Goslar ihr Leben in eigenen Worten berichten. Manchmal hat man fast das Gefühl, neben Hannah zu sitzen und ihr zuzuhören, wenn sie von den schönen Tagen erzählt oder von ihrem Neuanfang in Eretz Israel und natürlich auch von dem Grauen, das sie durchleben musste – nur weil sie Jüdin war. Ganz besonders sind die zahlreichen Fotos im Mittelteil, die nicht selbstverständlich sind. Viele Überlebende haben alles verloren und daher ist es umso schöner Abbildungen von Anne, Hannah und ihren Familien zu sehen.
Fazit
Lebensberichte aus der Zeit der Shoah gibt es viele und alle sind wichtig als Zeugnisse und Aufforderung für ein „Nie wieder“. Doch „Meine Freundin Anne Frank“ ist ganz besonders, weil es eine andere Sicht auf Anne Frank zulässt und gleichzeitig sehr bewegend, eindrücklich und auf ganz besonders persönliche Weise das Leben von Hannah Goslar und ihrer Familie erzählt. Mitreißend, tragisch und absolut notwendig!
Deine Meinung zu »Meine Freundin Anne Frank«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!