Leuchten am Meeresgrund
- wbg Theiss
- Erschienen: Januar 2025
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Geistesblitze zwischen Blau und Schwarz.
Im Jahre 1930 hat Charles William Beebe bereits abenteuerreiche Lebensjahrzehnte hinter sich. 1872 in New York City geboren, trieb es ihn früh zur Wissenschaft und in die Ferne. Zwar naturwissenschaftlich ausgebildet, doch ohne akademischen Abschluss, gilt er nicht als ‚richtiger‘ Forscher und fühlt sich unterschätzt, obwohl er aufgrund seiner Erfahrungen, die er jenseits des Schreibtisches in noch kaum bekannten Regionen sammeln konnte, über ein enormes Wissen verfügt. Da Beebe in der Lage ist, seine Erkenntnisse in allgemeinverständliche Worte zu fassen, ist er immerhin ein populärer Autor (was das Misstrauen der Elfenbeinturm-Akademiker freilich noch verstärkt).
Vor 1930 war Beebe vor allem in den Dschungeln Asiens und Südamerikas unterwegs. Er begann als Ornithologe, konnte und wollte sein Interesse jedoch nie auf ein Gebiet beschränken. Schon früh ahnte er, dass die Natur sich nicht auf ihre Details herunterbrechen lässt, sondern diese in einem steten Austausch stehen: Beebe wurde zu einem Pionier der Ökologie.
Ende der 1920er Jahre treibt ihn die Neugier in bzw. unter das Meer: Beebe will die Tiefsee erkunden, die lange als lebensleere Ödnis galt, bis sich herausstellte, dass sich auch dort eine ungemeine reiche Fauna tummelt. Zwar hat man tote oder beschädigte Exemplare an die Oberfläche geholt, aber Beebe möchte diese Tiere in ihrer natürlichen Umgebung beobachten, was ihn vor eine gewaltige technische Herausforderung stellt: Der Wasserdruck in der Tiefsee würde einen Landbewohner buchstäblich zerquetschen.
Beebe tut sich mit dem Ingenieur Otis Barton zusammen. Sie bauen eine kaum anderthalb Meter durchmessende Kugel aus Stahl, die an einem Kabel in die Tiefe gelassen wird. Ab Frühjahr 1930 beginnen sie im Ozean vor den Bermuda-Inseln mit Tauchgängen, die sie schließlich in eine Rekordtiefe von 923 Metern führen. Ihre Beobachtungen sorgen für einen Quantensprung in der Tiefseeforschung, doch Beebe wendet sich erneut den Ökosystemen des Landes zu ...
Auf dem Grat zwischen Entdecker und Wissenschaftler
Wer sich fragt, was an der Geschichte eines Mannes interessant sein soll, der in tiefes Wasser taucht, möge sich daran erinnern, dass noch heute mehr Menschen den Mond betreten als den tiefsten Punkt der Meere erreicht haben. Wasser und Weltraum sind gleichermaßen lebensgefährlich, obwohl unsere Körper unter der Haut vor allem aus Flüssigkeiten bestehen. Doch Wasser ist schwerer als Luft, was sich sehr rasch bemerkbar macht, je tiefer man taucht: Es drückt den Körper bzw. dessen Hohlräume zusammen - und atembar ist es auch nicht, was die Tauchtiefe einschränkt. Zu Druck und Atemnot gesellt sich Kälte: Ungeschützt kann man nicht in die Tiefsee vordringen.
Zwar wagten sich Menschen in unförmigen Anzügen mit langen, an die Oberfläche reichenden Luftschläuchen schon vor 1930 unter Lebensgefahr hinab, aber die ‚echte‘ Tiefsee erreichen sie nicht einmal annähernd. Hier sind Beebe und Barton Pioniere, deren Mut man bewundern muss, wenn man die primitive Stahlkugel betrachtet, die an einer dünnen Trosse hängt. Über ein Telefonkabel hält man Kontakt mit der Oberfläche. Ein Elektrokabel sorgt für Strom. ‚An Bord‘ gebunkerter Flüssigsauerstoff muss unter Wasser ausreichen; manchmal wird es knapp (und Barton neigt zur Seekrankheit).
Die Sicht ist stark eingeschränkt. Funzelige Leuchten sorgen für kurze Sichtweiten, die Fenster der Kugel sind winzig, Fotoapparate überfordert. Beebe muss über das Telefon durchgeben, was er erkennt. Oben werden seine Worte mitgeschrieben, und später versuchen Zeichner auf Papier zu bannen, was Beebe gesehen haben mag; es spricht für ihn, dass viele der von ihm beobachteten Tiere viel später wiedererkannt werden können.
An der Grenze des Begreiflichen
„Leuchten am Meeresgrund“ ist kein nüchtern beschreibendes Sachbuch über die Tauchgänge mit der Bathysphere. Autor Brad Fox geht weit darüber hinaus. Die historischen Tauchfahrten werden durchaus ausführlich geschildert, doch der Tonfall ist nicht dokumentarisch. Fox arbeitet mit den Fakten, er springt von Thema zu Thema sowie durch Zeit und Raum, wobei er die Chronologie oft nur grob beachtet. Ihm geht es nicht um die neuerliche Darstellung ohnehin meist gut dokumentierter Fakten, die er deshalb knapp hält. Fox sieht die Fahrt in die Tiefe auch als metaphysische Reise, die vor allem Beebe nachhaltig verändert hat. In der Kugel kauernd, fand er sich in einer Welt wieder, die er nur rudimentär beschreiben, aber nicht wirklich verstehen konnte.
Stets schienen sich die interessanten Bewohner der Tiefe knapp außerhalb des Scheinwerferkegels zu halten. Doch auch so wurde Beebe von der Tierwelt der Tiefsee förmlich überwältigt. Fast ausnahmslos produzieren die oft grotesk gestalteten Wesen ‚kaltes‘ Licht in sämtlichen Farben, um Beute anzulocken oder Geschlechtspartner zu finden. Was Beebe durch die Quarzglasfenster der Tauchkugel sah, konnte er nur ansatzweise in Worte fassen, nie fotografieren, sondern nur zeichnen lassen, was er als kümmerliches Echo einstufte.
Letztlich kapitulierte Beebe nach Fox’ Auffassung vor der Wucht des Unbegreiflichen, die ihn demütig, aber auch klüger geworden ans Land zurücktrieb, wo er seine These von der Existenz miteinander ‚kommunizierender‘ Ökosphären vertiefte. Beebe kehrte nicht in die Tiefsee zurück; er überließ es anderen, diese außerirdisch anmutende Welt zu erfassen.
Legende und Mensch
Fox geht sehr auf den Menschen Charles William Beebe ein, der ein klares, aber geschöntes Bild seiner Person im Dienst der Wissenschaft zeichnete. Als Autor konnte er dies steuern und (vor dem Internet) unerfreuliche Brüche übertünchen. So bediente sich Beebe nicht grundlos einer selbst erfundenen Geheimschrift; als diese (lange nach seinem Tod) entschlüsselt werden konnte, stellte sich heraus, dass der verheiratete Beebe - seine Gattin hasste die Wildnis und blieb in der Stadt - intime Verhältnisse zu seinen deutlich jüngeren und hübschen Assistentinnen unterhielt. Fox prangert nicht an, sondern legt dar, dass die Zivilisationsferne einer Forschungsstation beiden Geschlechtern Freiheiten bot: Arbeit und Privatleben liefen jenseits einer moralisch urteilenden Öffentlichkeit ab. Gloria Hollister (1900-1988) definierte sich nicht als Geliebte. Wenn sie den Telefonhörer hielt und Beebes Sichtberichte aus der Tiefe festhielt, war auch sie es, die diesem Projekt zu seinem Erfolg verhalf.
Gern schweift Fox ab und erzählt vom ebenso abenteuerlichen wie entbehrungsreichen Entdecker- und Forscheralltag. Weit greift er in die Vergangenheit zurück, wenn er uns darüber in Kenntnis setzt, wie und wann der Mensch unter die Wasseroberfläche ging, und enthüllt eine erstaunliche Historie halb vergessener Wegbereiter und Opfer. Beebe und Barton waren Episoden dieser bis in die Gegenwart fortgesetzten Geschichte. Fox markiert, auf welche Weise und wo die Tauchkugel noch heute präsent ist.
„Leuchten am Meeresgrund“ ist auch als Buch eine Freude. Historische Fotos geben Einblick in eine Forscherwelt, die kaum ein Jahrhundert später wie einem Hollywood-Film entlehnt wirkt. Eindrucksvoller sind jedoch die Farbtafeln. Sie zeigen die Tiere der Tiefsee, wie sie Zeichner nach Beebes Beschreibungen detail- und farbenfroh quasi neu schufen, was gleichzeitig belegt, dass die Fotografie keineswegs die ultima ratio der Objektwiedergabe darstellt. Zeichenhandwerk kann zur Kunst werden. Den Lesern ergeht es ein bisschen wie einst Beebe, wenn der Verfasser Text und Abbildungen zu einem besonderen, den Horizont des Lesers erweiternden Gesamtwerk verschmilzt.
Fazit
Sowohl inhaltlich als auch (ganz besonders) formal die Grenzen des Sachbuchs sprengende Darstellung einer prägenden Episode der Naturforschung. Oft lyrisch versucht der Autor nachzuempfinden, was die Pioniere des Tiefseetauchens einst dachten und fühlten, als sie in eine völlig neue Welt vordrangen. Großartiges Bildmaterial rundet das Lektürevergnügen ab.
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