Imperium der Schmerzen

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Michael Drewniok
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Sachbuch-Couch Rezension vonJan 2023

Gier, Geltungssucht & Gleichgültigkeit

Mortimer, Raymond und vor allem Arthur, der Älteste: Die drei Sackler-Brüder lebten den Amerikanischen Traum - in voller Konsequenz, was bedeutet, dass sie auf dem Weg nach oben jene niedertrampelten, die ihnen im Wege standen. Als sie den Gipfel der Macht erreicht hatten, sicherten sie sich und ihren Nachkommen eine buchstäblich goldene Zukunft, indem sie betrogen, logen, mit Schmiergeld nie sparten und sich hinter einer Legion gut bezahlter Anwälte verschanzten, während sie zunehmend zweifelhaftere ‚Medikamente‘ auf den Markt drückten.

Der manisch-unermüdliche Arthur verknüpfte in den 1930er Jahren meisterhaft medizinische Forschung mit Marketing. Er ließ sich nie durch Gesetze oder moralische Regeln bremsen, pushte die in einem undurchsichtigen Firmengeflecht entwickelten Mittel und hatte kein Problem, dafür angebliche ‚Fachzeitschriften‘ zu missbrauchen, die er selbst herausgab.

Der Öffentlichkeit präsentierten sich die Sacklers als Wohltäter und Philanthropen. Sie spendeten gewaltige Summen für Museen und Hochschulen und stützten damit ihren Ruf als vorbildliche Amerikaner, während sie Milliarden scheffelten - dies vor allem durch eine Reihe auf den Markt gebrachter Medikamente, mit denen sich Nervenleiden und Geisteskrankheiten mildern oder ‚heilen‘ ließen. Damit einhergehende Abhängigkeiten und Nebenwirkungen wurden unter den Tisch gekehrt und abgestritten, Kritiker bestochen oder vor Gericht zum Schweigen gebracht.

Die zahlreichen Nachkommen der drei Brüder lernten ihre Lektion perfekt: Nicht als Raub-Kapitalist auffallen, (steuerbegünstigt) stiften, den Reichtum unauffällig genießen und Vorwürfe schon im Keim ersticken. Ungeachtet durchaus gestarteter Versuche, den Sacklers Einhalt zu gebieten, wurden sie zu einer der reichsten Familien in den USA. Nie ließen sie ihre Machenschaften ruhen oder zeigten Reue, bis sie - scheinbar - Ende der 2010er Jahren endlich zur Rechenschaft gezogen wurden.

Was ich an mich reißen kann, gehört mir!

Was Patrick Radden Keefe nach jahrelanger Recherche an die Öffentlichkeit bringt, ist in doppelter Hinsicht deprimierend. Erschreckend wirkt die erbarmungslose Realität jener Binsenweisheit, dass Geld die Welt regiert. Dabei ist längst nicht (alles) neu, was Keefe seinen Lesern präsentiert. Wer wissen wollte, kannte die Sacklers und ihr Treiben schon vor 2019, als der Clan wieder einmal vor Gericht zitiert wurde. Doch niemand mochte es sich lange, viel zu lange mit der mächtigen, spenden- und klagefreudigen Familie verderben; der US-Geldadel nicht, der generell vertuscht, wie er an sein Vermögen kam, und erst recht nicht die unzähligen Nutznießer, die wussten, was der Clan von ihnen erwartete.

„Imperium der Schmerzen“ ist quasi die Blaupause für einen ‚Aufstieg‘, der stets auf Kosten anderer erfolgt. Dabei gehörten die Sacklers ursprünglich zu den unzähligen Einwanderern, die ein für sie feindseliges Europa verließen, um jenseits des Atlantiks neu anzufangen. Als Juden empfing man die Sacklers nicht mit offenen Armen. Während die Eltern scheiterten, passten sich die Kinder an. Sie wurden zu berechnenden Geschäftsleuten, die den Aufstieg schafften.

Der Preis war hoch. Vor allem Arthur Sackler verlor niemals die Furcht vor dem Verlust seines Imperiums, das ihm nie groß genug war. Glaube nur an dich und die Familie, auf keinen Fall an die Regierung und ihre Behörden, die du ignorierst, täuscht und einwickelst, während du ausschließlich deinem Kodex folgst, der Mitgefühl und Mitbestimmung ausklammert und widerspiegelt, wie es dir in deinen jungen Jahren ergangen ist. Als die Sacklers ‚teilten‘, geschah dies ausschließlich nach ihren Regeln. Nie versiegende Minderwertigkeitsgefühle und ein Sammelzwang, der mit der Gier im Geschäftsalltag korrespondierte, trieben die Sackler-Brüder an.

Der Lohn der üblen, aber einträglichen Tat

Familiensinn beschränkte sich bei den Sacklers auf die gemeinsame Jagd nach mehr Geld und Einfluss. Menschlich verkümmerten vor allem ihre Kinder und Enkel, die zwar nie unter Geldmangel litten, denen aber auch kein moralischer Kompass vermittelt wurde. Nicht einmal die eigene Sippe blieb verschont; wer nicht mithalten konnte oder wollte, nahm in der Regel ein böses Ende.

Die Nachkommen wurden Nutznießer eines Konzerngeflechts, das sorgfältig verschachtelt, getarnt und abgeschirmt war. Ganz oben erfuhr man nicht, was getroffene Entscheidungen in Gang setzen konnten. Man wollte es dort auch nie wissen, solange das Geld floss und man sich weiterhin als Stifter und Menschenfreunde inszenieren konnte. Die US-Verwaltung hatte auf sämtlichen Ebenen das Nachsehen; die Familie sorgte für die Sicherung ihrer Pfründe - und lancierte schließlich das Schmerzmittel Oxycontin, dessen Opiodwucht mit Heroin konkurrieren kann. Es wurde als ‚Wundermittel‘ von Ärzten auch bei leichten Beschwerden verschrieben und rasch zu einer leicht erhältlichen Ersatzdroge, die US-Amerikaner millionenfach in die Abhängigkeit, ins Elend und in den Tod trieb. Die Firma trieb ihre Pharmavertreter an, dieses Geschäft anzuheizen, ohne sich um die Folgen zu scheren.

So blieb es bis weit ins 21. Jahrhundert, während der Boom das Vermögen der Sacklers in ungeahnte Höhen katapultierte. Als sich die Zeichen mehrten, dass diese Kur schlimmer als die Krankheit sein konnte, sorgten sie für eine systematische Unterdrückung dieser Tatsache. Dabei scheuten sie vor keiner gesetzlich oder moralisch unlauteren Methode zurück. Notfalls wurden gut entlohnte Strohmänner verheizt, während die Sacklers auf Tauchstation blieben und sich nur als Stifterfürsten spreizten.

Der Stoff, aus dem die (Alb-) Träume sind

Doch sie trieben es zu bunt - dies auch, weil sie sich inzwischen im bekannten Wahn der Superreichen unangreifbar wähnten. Immer hatte es mit dem Schmieren und Beschwichtigen geklappt, und die Oxy-Opfer ließen sich als Unterschichten-Pack und haltlose Pillenschlucker verunglimpfen. Doch nachdem das „Wundermittel“ eine halbe Million US-Bürger auf den Friedhof gebracht hatte, konnten die Sacklers ihren Würgegriff nicht mehr aufrechterhalten.

Stück für Stück wurde den Sacklers die Maske heruntergerissen, doch sie gaben niemals auf. Da sie in den ‚guten Zeiten‘ viel Geld ins Ausland verschoben hatten, konnten sie sich ganze Heerscharen skrupelfreien Anwälte leisten. Nie wurde ein Mitglied des Sackler-Clans persönlich zur Rechenschaft gezogen, und ihr Blutgeld durften sie ebenfalls behalten. Noch steht eine Flut weiterer juristischer Attacken an, doch die Sacklers dürften weiterhin weit über den von ihnen verwüsteten USA auf Wolke Nr. 7 ihr Luxus-Leben führen.

Schmerzhafter dürfte der Renommee-Verlust wiegen: Überall auf der Welt nehmen Museen u. a. Institutionen keine Sackler-‚Spenden‘ mehr an. Schlimmer noch - die der Familie gewidmeten Museen, Ausstellungen oder Universitätslehrstühle wurden mehrheitlich umbenannt. Die Sacklers finden dies ungerecht, aber ansonsten verhalten sie sich still. Geduld ist eine Tugend in der Welt des großen Geldes. Der Tag mag - oder wird - kommen, an dem das kriminelle Tun der Familie in Vergessenheit bzw. vertuscht wird. Bis dahin müssen sie sich mit einem banalen Milliardärs-Dasein begnügen …

Fazit

Großartige Dokumentation deprimierender Umtriebe einer US-amerikanischen Dynastie, die zusammengerafften Reichtum über Jahrzehnte brutal vermehrt und verteidigt und sich um die verheerenden Folgen nicht schert: „True-Crime“-Drama, das dank eines engagiert recherchierenden Verfassers Thriller-Qualität besitzt.

Imperium der Schmerzen

Patrick Radden Keefe, hanserblau

Imperium der Schmerzen

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