Wenn die Hoffnung auf Veränderung verloren geht
Speyer, 13.05.2022: Andreas Schmidt erklärt seinen Austritt aus der römisch-katholischen Kirche. In Zeiten rasant steigender Austrittszahlen eigentlich nichts Besonderes. Für die Gläubigen und vor allem die Kirche ist dies aber ein Paukenschlag. Denn Andreas Sturm ist nicht irgendwer, sondern war der Generalvikar in Speyer. Der Stellvertreter von Bischof Wiesemann legt gleichzeitig sein Amt nieder und kehrt somit der Kirche und dem, woran er von Kind an aus tiefster Überzeugung im wahrsten Sinne des Wortes geglaubt hat, den Rücken zu. Warum trifft jemand, der eine der einflussreichen Positionen im Bistum bekleidete, eine derart weitreichende Entscheidung?
Kirche: Nein! Gott: Ja!
Darüber berichtet der 47-jährige Sturm in seinem sehr intimen, offenen, kritischen, aber auch nachdenklich stimmenden Buch. Eins wird gleich zu Beginn deutlich: Einfach hat es sich der ehemalige Generalvikar mit seiner Entscheidung nicht gemacht. Es war ein schleichender Prozess und gleichzeitig ein langer Weg der Entfremdung von dem, was ihm einst so viel bedeutete und was ihm auch unendlich viel gab. Schmidt beschreibt eindringlich seine inneren Kämpfe, sein Ringen, Hadern, seine Ängste und Sorgen. Am Ende steht eine Abkehr von der römisch-katholischen Kirche, nicht aber von Gott. Den Glauben an ihn und die Freude und den Trost, den das Evangelium immer schenkt, verliert er nicht - wohl aber die Hoffnung auf Veränderungen in der Kirche, seinen Mut und letztendlich seine Kraft.
Verspätetes Eingeständnis
Vom Messdiener bis zum Generalvikar: Ein Weg, den Andreas Sturm gerne und aus vollster Überzeugung ging. Im Rückblick muss er aber erkennen, dass es bereits früh Momente gab, die ihn hätten zweifeln lassen sollen. Aber er war zu überzeugt davon, den für sich richtigen Weg zu gehen. Er spürte lange Zeit nicht, in welcher Blase er lebte. Vor allem in den letzten Jahren häuften sich im Rahmen der Missbrauchsdebatte, den Ergebnissen der MHG-Studie, der Frage nach der Notwendigkeit des Zölibats, der Sexualmoral der Kirche und dem Umgang mit der eigenen Macht immer mehr Enttäuschung, Frustration und Fassungslosigkeit bei ihm. Viele Jahre schwieg er und verriet damit seine Überzeugungen: „Ich war oft nicht mutig genug und hätte vielleicht weitaus früher aufstehen und meine Stimme erheben müssen“, sagt Sturm rückblickend.
Die Selbstlüge beim Missbrauchsskandal
Missbrauch in der Kirche kann unmöglich zu einem höheren Prozentsatz vorkommen als in der Gesamtgesellschaft. Davon war auch Andreas Sturm lange Zeit überzeugt. Aber die schockierenden Ergebnisse der MHG-Studie lassen ihn, als er 2018 gerade zum Generalvikar ernannt wurde, nicht kalt. Etwas zerbricht in ihm: die unfassbare Zahl an Tätern und Opfern, das Leugnen der Aussagen von Kindern. Statt alles zu unternehmen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, sei es nur darum gegangen, die Institution zu schützen. Schmidt war es peinlich, Gesicht dieser Institution zu sein.
Weltfremdheit versus Lebensrealität
Es sind Beispiele wie diese, die zeigen, woran die Kirche aus der Sicht Sturms krankt. In vielen Bereichen habe man sich von der Gesellschaft entfernt, etwa bei der für viele nur schwer verständliche Liturgiesprache oder der Ungleichbehandlung von Männern und Frauen, etwa in Bezug auf die Priesterweihe. Diese Weltfremdheit zeige sich aber auch beim Zölibat. Sicherlich gebe es Priester, die in der zölibatären Lebensform erfüllt und glücklich leben. Für die Mehrheit gehe dies aber an der Lebensrealität der Menschen und damit auch der Geistlichen vorbei. Dabei gesteht er offen, selber nicht immer zölibatär gelebt zu haben.
Der wahre Umgang mit Homosexualität
Selbstverständlich ist die Sexualmoral der Kirche ein wichtiges Thema für Sturm. Vor allem in den konservativen und reaktionären Kreisen der Kirche schrillen laut die Alarmglocken beim Thema LGTBQ. Die Forderung etwa, Homosexuelle müssten enthaltsam leben, man solle ihnen aber gleichzeitig mit „Würde und Respekt“ begegnen, hält Sturm für „schräg“. Es gehe doch vielmehr darum, ob jemand eine Beziehung lebe, die auf Liebe und Respekt basiere, als um die sexuelle Orientierung. Sturm selber habe hinsichtlich hetero- und homosexueller Liebe nie einen Unterschied gemacht. Heute schäme er sich aber dafür, dass er in den seltenen Fällen, in denen er darum gebeten wurde, homosexuelle Paare zu segnen, dies hinter verschlossenen Kirchentüren getan habe.
Klerikalismus von unten versus Abgrenzung
Aber auch im Klerikalismus der Laien sieht Sturm eine Gefahr, da dort oftmals das Amt in der Kirche so sehr spirituell überhöht werde und dies eine regelrechte Sakralisierung des Priesters bewirke, die weder theologisch gedeckt noch menschlich möglich sei. Gleichzeitig drohe auch eine äußere und innere Spaltung in „Ortspfarrei-Idyll“, in denen sich die Gläubigen als Pfarrei so anders und besser als Rom fühlten, und der Weltkirche. Dies sei immer häufiger zu beobachten.
Wie geht es weiter?
Wie schwer es der römischen Kirche fällt, mit Vorschlägen und Bemühungen der Veränderung umzugehen, zeigte sich erst Ende Juli in einer Erklärung zum Synodalen Weg in Deutschland. Der Vatikan stellte klar, dass dieser Reformprozess nicht befugt sei, neue Formen der Leitung und eine neue Ausrichtung der katholischen Lehre und Moral zu entwickeln. Hier zeigt sich ein alleiniger Führungsanspruch des Vatikans, was die Veränderung von Macht und Lehre in der Kirche angeht. Dies dürfte Andreas Sturm im Nachhinein zeigen, dass er aus seiner Sicht mit der Entscheidung richtig lag, sich von „seiner“ Kirche abzuwenden. Grundmisstrauen und die Hybris zu glauben, dass man von Rom aus immer besser wisse, was die Menschen in den einzelnen Teilen der Welt bräuchten, sind laut Sturm die größten Fehler der römischen Kirche.
Fazit
Ein Buch, das eine große Öffentlichkeit verdient hat. Nicht, weil neue Inhalte oder Fragen diskutiert bzw. aufgeworfen werden, sondern weil es die Antwort von jemanden aufzeigt, der selber ein wichtiger Teil der römisch-katholischen Kirche in Deutschland war. Aber der Leser muss selber entscheiden, ob dies auch die eigene Antwort ist oder ob man sich die Hoffnung, dass Veränderung möglich ist, weiter erhält.
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