Ein so unterhaltsamer wie fundierter Blick auf die Psychen literarischer Helden
Romanfiguren sind in aller Regel Menschen, die demnach menschliche Werte, Emotionen und Macken repräsentieren. Was liegt also näher, als einige der berühmtesten (tragischen) Helden der Weltliteratur aus der Perspektive eines Psychiaters zu betrachten? Genau das tun Claudia Hochbrunn und Andrea Bottlinger in ihrem unterhaltsamen kleinen Band „Helden auf der Couch“. Wie sie auch selbst sagen, handelt es sich bei den betrachteten Werken um Größen der westlichen Literaturgeschichte, was den Vorteil haben dürfte, dass das deutsche Publikum sie entweder selbst gelesen hat oder zumindest kennt.
Bevor die Helden auf die Couch gelegt werden, ordnen die Autorinnen kurz die entsprechende Epoche ein und charakterisieren sie, bevor sie die Handlung des jeweiligen Werkes kurz und äußerst humorvoll referieren. Schon daraus wir klar, dass man aus heutiger Perspektive auch so manchen Verfasser auf die Couch legen könnte… Anschließend werden aber die Charaktere näher betrachtet, ihr Handeln kontextualisiert und aus psychologischer Sicht beurteilt. Frühkindliche Traumata, familiäre Abhängigkeitsverhältnisse oder falsche Idealbilder, die Autorinnen erklären schlüssig und leicht verständlich, wie es zu den kleinen und großen Katastrophen der Helden kommen konnte und seltener auch, was diese eigentlich richtig gemacht haben. Besondere Freude machen dabei die Überlegungen, wie es alternativ hätte laufen können: Wenn ein Protagonist ein liebendes Elternhaus gehabt hätte, wenn der Umgang mit Sexualität weniger verkrampft gewesen wäre, wenn man einfach mal miteinander geredet hätte, hätten manche Geschichten ganz anders geendet. So werden die fiktiven Figuren auf eine ganz neue Art und Weise zum Leben erweckt.
Der Humor kommt dabei absolut nicht zu kurz. Gerade bei den älteren Werken, etwa König Ödipus von Sophokles, der Artusgeschichte oder Goethes Werther, erscheinen einzelne Handlungen und Wendungen auf den ersten Blick doch sehr absurd. Die Autorinnen sparen nicht an trefflichem Sarkasmus und ironischen Spitzfindigkeiten, während sie die Charaktere auf ihr Wesentliches herunterbrechen. Lautes Lachen beim Lesen ist also vorprogrammiert. Die Analysen wirken dadurch bisweilen recht schonungslos, sind aber keinesfalls auf den Spaßfaktor reduziert und werden abseits der Pointen logisch erklärt. Auch der Entstehungskontext der jeweiligen Werke, samt den Wertvorstellungen und Gedankenwelten ihrer Epochen, wird stets mitthematisiert. So verbirgt sich hinter dem lockeren Ton der Beschreibungen eine wirklich fundierte und kenntnisreiche literaturgeschichtliche Betrachtung. Das aber auf einem unterhaltsamen und allgemein verständlichen Niveau, auch durch zeitübergreifende Vergleiche. So kann man die tragische Geschichte von Romeo und Julia durchaus als „Teenager-Schulhofdrama mit tödlichem Ausgang“, den jungen Werther als „Emo, bevor es cool war“ und Dracula als „unverstandenes Opfer latenter Fremdenfeindlichkeit“ sehen. Damit brechen Hochbrunn und Bottlinger gleichzeitig noch eine Lanze für die Aktualität klassischer literarischer Werke, die wir in der heutigen Zeit gerne als etwas verstaubt empfinden. Trotz des lockeren Tonfalls versäumen sie niemals, auch ihre eigene Perspektive kritisch zu reflektieren und sich damit gewissermaßen selbst einzuordnen.
Fazit:
Der Spagat zwischen Unterhaltungsanspruch und Ernsthaftigkeit gelingt formidabel; es ist so spaßig wie lehrreich, „Helden auf der Couch“ zu lesen. Hinterher möchte man sich höchstens noch eingehender mit psychologischer Tiefenschürfung befassen. Wer sich also auch nur ansatzweise für Literatur, Geschichtenerzählen und Psychologie interessiert, wird großes Vergnügen an diesem Buch haben. Es ist zu hoffen, dass es nicht bei diesem einen Band bleibt – die Weltliteratur hat garantiert noch unzählige andere verschrobene Helden zu bieten, die sich für eine solche Analyse lohnen.
Claudia Hochbrunn, Andrea Bottlinger, Rowohlt
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