Vom Steinhaufen zur Selbstschussanlage - wie sich Grenzen im Laufe der Zeit entwickelt haben
Was hat es eigentlich mit den Grenzen so auf sich? Wir überquerten sie ständig, ohne es zu merken. Wir verlassen unsere Stadt, unseren Landkreis, oder unser Bundesland - und sehen nicht, dass wir Verwaltungsgrenzen überschreiten. Auf Schildern an der Autobahn steht dann: “Auf Wiedersehen in Niedersachsen”!, “Willkommen in Bremen!”. Sehen wir die Schilder nicht, wird uns überhaupt nicht bewusst, dass es da Grenzen gibt - im europäischen Schengen-Raum wird das nicht einmal zwischen Staaten deutlich. Wie sind Grenzen entstanden? Welche Funktion hatten sie, welche haben sie heute noch? Und wie wurden sie festgelegt und markiert?
Diesen hochgradig faszinierenden Fragen widmet sich Alexander Demandt in seinem lesenswerten Kompendium. Man kann den 656 Seiten starken Wälzer in einem Rutsch lesen, dazu ist aber ausgeprägtes historisches Interesse hilfreich. Oder abschnittsweise, Demandt hat den umfangreichen Stoff nach einer Einführung in zeitlich und regional passende Abschnitte gegliedert - von der Antike bis zur Neuzeit. Oder man benutzt “Grenzen” als Nachschlagewerk, um sich über einzelne Aspekte oder Zeitabschnitte zu informieren.
Inhaltsstarkes Buch ist hervorragend ausgestattet
Der profilierte Historiker hat viel Forschungsarbeit in dieses Buch gesteckt, vorhandenes Material verwertet, neue Erkenntnisse hinzugewonnen. Das Buch verfügt über ein ausgezeichnetes Register, viele, gut aufbereitete Karten, um das Geschilderte zu erläutern und zu verdeutlichen. Eine lange Literaturliste rundet die ausgezeichnete Ausstattung ab.
Mir hat besonders gut die ausführliche Begriffsklärung im ersten großen Abschnitt des Buchs gefallen. Unter der Überschrift "Grenze als Grundkategorie” zeigt der Autor die enorme Dimension des Themas auf. Sein wissenschaftlicher Anspruch führt Alexander Demandt im Zuge seiner Schilderungen während der weiteren Kapitel auch zuweilen in eher abgelegene Aspekte und Themenbereich. Aber als erfahrener Buchautor versteht er es doch immer wieder sehr gut, die Leserinnen und Leser zurück zum roten Faden zu führen.
“Die gewaltigste Grenzbefestigung und das größte Bauwerk der Menschheit überhaupt ist die Chinesische Mauer. Sie sollte das Kulturland gegen die Tataren schützen, so wie der Limes das Römische Imperium gegen die Germanen.”
Nach der Einführung beginnt Demandt mit dem alten Orient, diesen Abschnitt schließt China ab. Es folgen die Griechen, Rom, Germanen und Mittelalter. Die Neuzeit, und Kriegs- und Nachkriegszeit schließen das Thema ab, bevor der Autor sein Fazit präsentiert.
Natürliche Grenzen und erste Markierungen durch Menschen
Alexander Demandt erläutert ausführlich, dass Flüsse, Meere und Gewässer überhaupt natürliche Grenzen gebildet haben und es noch heute tun - das kennen wir alle. Aber wann fing es damit an, sein Territorium mit Steinen zu markieren? Das Kapitel zum alten Orient beginnt mit der in der Bibel geschilderten jüdischen Landnahme durch das Überqueren des Jordan - also eines Flusses.
Es blieb im Verlaufe der Geschichte nicht bei Steinhaufen, sondern es wurden Zäune und Mauern gebaut, die nicht immer so gewaltig waren wie der römische Limes oder die Chinesische Mauer. Es gab Wachtürme auf Bergpässen, schier unüberwindliche Grenzen mit Selbstschuss-Anlagen wie zwischen Bundesrepublik und der DDR, oder wie jetzt zwischen den beiden koreanischen Staaten.
“Die Grenzen der mittelalterlichen Reiche unterlagen raschen Veränderungen. Das beruht darauf, dass die politische Gliederung der Territorien nicht Sache des dauerhaft sesshaften Volkes, sondern Angelegenheit der rasch wechselnden Herrscher war.”
Grenzen wurden in aller Regel durch Gewalt verändert, und behielten durch Gewöhnung ihre Form - bis sie möglicherweise erneut verändert wurden. Alexander Demandt erzählt die Geschichte der Grenzen in leichtem Plauderton, trotz der durchaus populären Sprache genügt sein Werk wissenschaftlichen Ansprüchen. Anmerkungen, Karten, Register, Literaturliste - das kann der Leser oder die Leserin nach eigenem Gusto nutzen, oder sich einfach dem Lesevergnügen widmen. Und wenn dann doch wissenschaftliche Termini auftauchen, erschließen sie sich in aller Regel aus dem Kontext, machen die Lektüre aber schon anspruchsvoll.
An anderer Stelle lernt der Leser etwas über Begriffe, die ihm bislang möglicherweise nicht so vertraut waren. So weist “Mark” bei einer Landschaftsbezeichnung darauf hin, dass es sich hier um Grenzbereiche handelt, oder einst gehandelt hat, wenn das jeweilige Land expandierte und die Mark ins Inland rückte. Das Beispiel zeigt, “Grenzen” ist ein umfassendes Geschichtsbuch - mit einem sehr speziellen Blickwinkel.
Fazit
“Grenzen” ist nach meiner Überzeugung ein überaus lesenswertes Buch, für historisch interessierte Leserinnen und Leser in meinen Augen sogar eine echte Pflichtlektüre. Das in vielerlei Hinsicht faszinierende Thema der Grenzen nimmt Alexander Demandt als Aufhänger für einen “Parforceritt” durch die Geschichte der Menschheit. Spannend zu lesen, anschaulich erklärt und zum Nachdenken anregend zugleich.
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