Europa

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Michael Drewniok
8101

Sachbuch-Couch Rezension vonMai 2024

Wissen

Umfassendes Wissen bei selbstbewusstem Mut zur Lücke: So bekommt man ein schier grenzenloses Thema lesetauglich in den Griff!

Ausstattung

Aufgrund der Prägnanz und Wortgewandtheit des Verfassers ist die kurze Bilderstrecke eigentlich nicht notwendig.

Geschichte eines erstaunlich fremden Kontinents.

Europa gilt immer noch als Wiege der Zivilisation. Da diese Ansicht (viel zu) lange sowie vor allem von Europäern vertreten wurde, ist es Zeit für eine Relativierung. Die Wissenschaft lügt nicht; Wirrköpfe wollen dies nicht glauben, doch inzwischen müssen auch Stur-Europäer die vielfach belegte Tatsache akzeptieren, dass der Rest des Erdballs nicht von Wilden bewohnt wurde.

Das Wissen um diese Tatsache setzt Autor Tim Flannery voraus. Hilfreich ist dabei, dass er den Fokus nicht wie üblich auf jene zweieinhalb oder drei Jahrtausende legt, in denen es in Europa politisch, wirtschaftlich und kulturell-künstlerisch hoch herging, was stets unterschiedliche, oft umstrittene Interpretationsansätze fördert. Flannery ist Biologe und Spezialist für längst Ausgestorbenes, weshalb sein Blick ein wenig weiter in die vergangene Ferne schweift: Er beginnt seine Historie 100 Millionen Jahre vor der modernen Zeitrechnung!

Zu diesem Zeitpunkt war die Erde schon alt, denn 100 Millionen Jahre hinterlassen im geologischen Kalender eines Planeten nur eine flache Spur. Dies verwandelt die Vergangenheit in ein Feld der Frustrationen: Je weiter man zurückgeht, desto diffuser werden die Belege. Selbst Stein und Erde sind keineswegs ewig. Was sich unter unseren Füßen wie solider Boden anfühlt, ist ein auf lange Sicht recht wackliger Untergrund. Als Flannery seine Europa-‚Biografie‘ startet, konfrontiert er uns mit einer Landkarte, die sich radikal von dem unterscheidet, was heute aus dem All scharf umrissen betrachtet werden kann. Wäre man in ‚Europa‘ aus jener imaginären Zeitmaschine ausgestiegen, die der Autor mehrfach bemüht, hätte dies einen Sturz in (immerhin recht warmes) Wasser bedeutet: Europa als geschlossene Landmasse existierte (noch) nicht, höchstens einige Inseln lugten über den Meeresspiegel.

Da die Kontinente driften, veränderte sich dieses Bild. Flannery zeichnet nach, wie sich das an der Oberfläche niederschlug. Er bezieht dazu Pflanzen und Tiere ein, die zwar längst ausgestorben sind, deren Aussehen wir jedoch trotzdem kennen, weil sie sich als „Fossilien“ erhalten haben: Ihre Körper, ihre Knochen, sogar Haare, Federn oder andere empfindliche Teile verwandelten sich buchstäblich in Stein, der beinahe witterungsimmun fixiert, was einst (nicht nur) Europa besiedelte.

Eine Erfolgsgeschichte mit großen Startproblemen

Verständlicherweise ist die Entstehung eines Fossils ein von vielen Faktoren abhängiger Glücksfall, weshalb es weiterhin gewaltige Kenntnislücken gibt. Das trifft erst recht zu, weil Europa lange aus den genannten Inselchen bestand. Manchmal sorgten Eiszeiten oder geologische Umbrüche für ein Absinken des Wasserspiegels, sodass Landbrücken die Inseln verbanden. Ging das Wasser noch weiter zurück, konnten sogar die Bewohner fremder Kontinente wie Amerika oder Asien einwandern. Mehrfach hob und senkte sich das Wasser, bis endgültig eine Landmasse dort emporstieg, wo sich Europa heute in etwa erstreckt.

Immer wieder wechselten Flora und Fauna. Wie alle Wissenschaftler stand auch Flannary vor dem Problem, einen trotz der erwähnten Fund- und Kenntnislücken gewaltigen Faktenberg so aufzubereiten, dass sich ein roter Faden legen ließ. Flannery zeigt den für wahre Spezialisten typischen Mut zur Lücke und konzentriert sich auf einzelne Entwicklungsstränge, die exemplarisch für das große, schwer übersichtliche Ganze stehen müssen und können.

Hilfreich ist dem fachlich unwissenden Leser Flannarys Fähigkeit sich verständlich auszudrücken. Viele Verfasser drücken sich gern vor dieser Kardinalaufgabe eines Sachbuchautoren. In der Tat ist es eine zusätzliche Hürde, komplexe Fakten nicht ‚nachzubeten‘ oder brutal „herunterzubrechen“, sondern sie in Worte zu fassen, die eben nicht nur der Fachmann versteht. Glücklicherweise ist Flannary nicht nur ein Forscher, sondern auch ein talentierter, fleißiger und erfahrener Schriftsteller, der seine Leser zudem gern mit Anekdoten fesselt. Er erzählt von den letzten, nur noch ponygroßen Elefanten der Mittelmeerinseln und anderen bizarren Kreaturen der Vergangenheit, die oft deutlich länger existierten als gedacht und womöglich erst in den Kochtöpfen der ‚modernen‘ Menschen endeten.

Der unselige menschliche Faktor

Flannary ordnet die Fakten und bringt sie miteinander in Verbindung. Daraus ergeben sich überraschende Erkenntnisse. So lernen wir, dass Europas Pflanzen- und Tierwelt vergleichsweise selten ‚vor Ort‘ entstand. Stattdessen prägten Einwanderer ‚unseren‘ Kontinent. Oft starben sie wieder aus, doch irgendwann rückten Neusiedler über eine der auftauchenden Landbrücken nach. Manche blieben, passten sich an, veränderten sich, wurden „Europäer“.

So hätte sich die Naturgeschichte mehr oder weniger harmonisch fortsetzen können, doch schon vor mehreren Millionen Jahren begannen sich dunkle Gen-Wolken zusammenzuballen. Nicht in Afrika, wie lange angenommen, sondern wohl doch in Europa entstanden jene Arten, aus denen sowohl die Affen als auch die Menschen hervorgingen - eine Evolution, der Flannary besondere Aufmerksamkeit schenkt.

Die Frühgeschichte der Menschheit war bewegt; viele Äste an diesem Stammbaum wurden nachdrücklich gekappt: Menschen besiedelten Europa mehrfach. Die heutigen Bewohner (= wir) gehen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf afrikanische Ahnen zurück, die vor 38000 Jahren gen Norden strebten, in der oft eiszeitlichen Kälte erbleichten, aber blieben. In diesem Zusammenhang korrigiert Flannary das Bild vom grunzenden, O-beinigen, filzhaarigen Neandertaler, der nicht nur deutlich intelligenter war als lange gedacht, sondern auch weiterlebt: in uns, deren Vorfahren sich mit den Neandertalern vermischten. Noch heute tragen wir alle einige DNS-Prozente unseres Ahnen in den Genen!

Die Diskussion um die ‚Menschlichkeit‘ des Neandertalers und anderer beunruhigend menschenähnlicher Gestalten sorgte für heftige Auseinandersetzungen in einer frühen Naturwissenschaft, die noch sehr von religiösen Dogmen dominiert wurde. Überhaupt war die Beschäftigung mit Leben, das womöglich vor Adam & Eva existiert hatte, ein heißes Eisen. Flannary lässt die daraus resultierenden historischen Irrungen und Wirrungen in sein Werk einfließen und verdeutlicht, dass und wie Wissen sich wandeln kann - und muss.

Europas Gegenwart: eine Götterdämmerung

Je weiter sich die Darstellung der Gegenwart nähert, desto düsterer wird diese (reale) Geschichte. Flannary datiert den Umbruch im Einklang mit der modernen Forschung auf jenen Zeitpunkt, als das Gleichgewicht zwischen Natur und aufblühender Zivilisation kippte. Lange hatten das Klima und übermächtige Raubtiere die menschliche Population in Schach gehalten. Doch vor zwölf Jahrtausenden wurde der Mensch sesshaft. Er betrieb Ackerbau und Viehzucht, schützte seine Ressourcen, koppelte sich von der Witterung ab - und vermehrte sich. So vieler Menschen konnten die Raubtiere nicht mehr Herr werden, denn ihre Reproduktionsrate blieb unverändert. Nun wurden sie gejagt, verdrängt und schließlich ausgerottet; Flannary stellt uns die deprimierend lange Liste derer vor, die auf der Strecke blieben.

Die Abstände zwischen dem Verschwinden oft uralter Arten verringerten sich stetig. Höhlenbär, Riesenhirsch, Auerochse und Wildpferd verschwanden, und beinahe wären ihnen Wisent, Steinbock oder Moschusochse gefolgt. Der Tierschutzgedanke und das Wissen um die Komplexität ökologischer Systeme, die auf solche Lücken prompt reagieren, kamen (oft zu) spät. Erst langsam begriff man, dass mit den Mammuts nicht einfach große Elefanten verschwanden, sondern auch eine fruchtbare Grassteppe unterging, die nicht mehr beweidet und gedüngt werden konnte.

Ein deprimierter Unterton mischt sich in die Darstellung, obwohl Flannary zu jenen gehört, die in den Umbrüchen der Zukunft auch eine Chance sehen. Die Zerstörung ursprünglicher Naturflächen und ein Klimawandel, der wohl schon so weit in Gang gekommen ist, dass er sich nicht mehr stoppen lässt, wird abermals dafür sorgen, dass sich Europa verändert. So ist es schon immer gewesen, doch dieses Mal ist der Mensch für eine Entwicklung verantwortlich, deren Folgen er lieber verdrängt als zur Kenntnis nimmt. Flannary bezieht die Vergangenheit in seine Sicht in die Zukunft ein: Mit Visionen von Elefanten und Nashörnern, die außerhalb Afrikas wieder durch ein zukünftig eher menschenleeres Europa streifen, schließt er seinen 100-Millionen-Jahre-Kreis.

Fazit

Der Autor fasst die Geschichte des Kontinents Europa zusammen, seit dieser aus dem Urmeer aufstieg. Er orientiert sich an der Tier- und Pflanzenwelt, die ständigen Wechseln unterworfen war. Das Auftauchen des Menschen veränderte die ‚Spielregeln‘, was vom Verfasser allgemeinverständlich, interessant und mit einem gesunden Sinn für faszinierte Abschweifungen dargestellt wird.

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