Eine Auseinandersetzung mit den Phantomen der Vergangenheit
Was ist Trauma? Viele stellen sich darunter eine akute psychische Belastungsreaktion auf ein Ereignis vor, welches die physische Unversehrtheit oder gar das Leben bedroht, wie eine Kriegs- oder eine Missbrauchserfahrung. Tatsächlich hat sich der Begriff in den psychologischen und psychoanalytischen Schulen innerhalb der letzten Jahrzehnte etwas ausdifferenziert. So sind z.B. Unterkategorien wie das „Entwicklungstrauma“ entstanden, welches einen ähnlichen, körperlich in unserem Nervensystem gespeicherten Schock beschreibt, der jedoch auf fortdauernde frühkindliche Verletzungen (die aus erwachsener Sicht eher banal erscheinen und aufgrund der Lebensphase, in der sie geschehen sind, nicht konkret erinnerbar sind) zurückgeht.
Ein ebenfalls recht breites Feld, welches zunehmend in den Fokus der Traumaforschung rückt, ist die Rolle der Epigenetik: Diese beschreibt das komplexe Zusammenspiel von Umwelteinflüssen und genetischer Veranlagung, und wie bestimmte Prägungen bzw. äußere Einflüsse potenziell implizite Reaktionsmuster oder Verhaltensweisen auf molekularer Ebene aktivieren, deaktivieren oder in den Genen festschreiben können – oftmals sogar über Generationen hinweg. Viele Menschen werden in ihrem Leben von Depressionen und Ängsten verfolgt, reinszenieren dieselben Dramen wieder und wieder oder fühlen sich in ihrem Potenzial eingeschränkt – oftmals ohne sich darüber bewusst zu sein, dass sie das emotionale Erbe ihrer Vorgenerationen in sich tragen, welches sich nun bemerkbar macht. Flucht, Vertreibung oder andere Nöte haben einen Einschnitt im Leben dieser früheren Generationen bewirkt, der genetisch an die Nachfahren weitergegeben wird.
Jenem Erbe – und wie man ihm begegnen kann – geht die Psychoanalytikerin Galit Atlas in diesem Buch in zahlreichen Fallbeispielen aus ihrer Praxis auf den Grund …
„Es ist das unerforschte Leben anderer, in dem wir uns selbst wiederfinden“
Neben ihrer Arbeit als Analytikerin in Manhattan ist Atlas auch als Fachautorin, klinische Supervisorin, Dozentin und Coach tätig und hat international mit ihrem Wirken bereits viel Beachtung gewinnen dürfen. In diesem Buch begibt sie sich mutig auf eine sehr persönliche Ebene und beschreibt, wir ihr iranischer Vater und ihre syrische Mutter alles hinter sich ließen und nach Isreal auswanderten, wo sie sich ethnischer und sozioökonomischer Ausgrenzung stellen mussten. Beide hatten nicht nur furchtbare familiäre Verluste erlitten, sondern lebten nun auch im Schatten des Holocaust. Galit und ihre Schwester wuchsen in den Wirren des Jom-Kippur-Krieges auf. Der Angst, die ihr Geburtsrecht zu sein schien, begegnete sie, indem sie sich dem Singen und Musizieren auf der Bühne widmete und so nicht nur ihren politischen Protest zum Ausdruck brachte, sondern auch erste Schritte unternahm, den Mantel des Schweigens zu lüften, der die vielen inneren Wunden ihrer Familie kaschieren sollte. Es ist kaum verwunderlich, dass sie sich später für eine Karriere auf dem Gebiet der Psychologie entschied und so wissenschaftlich die Arbeit fortsetzte, den familiären Traumata, die oft über Generationen hinweg im Unbewussten wirken und unser Leben beeinflussen können, detektivisch nachzuspüren. Diesen sehr persönlichen Aufarbeitungsprozess verwebt sie mit zahlreichen Erfahrungen der Patienten, deren Geschichten sie (selbstverständlich unter geänderten Namen) in diesem Buch beschreibt und die alle in ihre eigene Familiengeschichte eintauchen müssen, um zu der Wurzel dessen vorzudringen, was sie eigentlich belastet.
„Wie erben, bergen und verarbeiten wir Dinge, an die wir uns nicht erinnern oder die wir nicht selbst erlebt haben?“
Da ist z.B. Leonardo, der die Trennung von seinem Lebensgefährten einfach nicht verwinden kann und schließlich feststellen muss, dass sein Großvater ein schmerzliches Geheimnis gehütet hat und er „stellvertretend“ trauert; da ist die junge Mutter Rachel, die ihrem eigenen Kinderwunsch ambivalent gegenüberstand und die von einem furchtbaren Albtraum geplagt wird, in welchem sie mit einem Baby im Arm um ihr Leben rennt – und der, wie sich herausstellt, auf eine bislang unerzählte Geschichte aus dem Leben ihrer Großeltern hindeutet; oder da ist Jon, der manchmal das Gefühl hat, sich für seine bloße Existenz entschuldigen zu müssen und dabei die schreckliche Erfahrung zutage fördern darf, als ungewolltes letztes Kind von seiner Mutter in dem Moment auf den Boden fallen gelassen worden zu sein, als seine Schwester tödlich verunglückte.
Dies sind nur wenige Beispiele, welche verdeutlichen, wie konsequent Atlas der Frage nachgeht, wie Traumata vergangener Generationen ausstrahlen und nachwirken können. Oft drängen diese als diffuse Symptome in Leben und Wahrnehmung der Kinder und Enkelkinder. Eine Befreiung von diesem emotionalen Fremdballast scheint nur möglich, wenn die Nachfahren den Schmerz, der nicht der ihre ist, ans Licht – sprich: ins Bewusstsein – bringen. Hierzu unternimmt Atlas – nach einer ausführlichen Einleitung – eine (etwas überflüssige) Unterteilung des Buches in Geschichten, welche sich auf die Großelterngeneration, dann die Elterngeneration und schließlich hauptsächlich auf „uns selbst“ beziehen, wobei der letzte Abschnitt der sowohl abstrakteste als auch uninteressanteste ist; zu diesem Zeitpunkt scheint das Wichtigste bereits gesagt.
„Wenn wir bereit sind, unser Erbe auszupacken, sind wir in der Lage, uns den Geistern, die wir in uns tragen, zu stellen“
Galit Atlas schweift manchmal etwas zu sehr aus, berichtet jedoch in einer fast lyrischen, einfühlsamen Sprache aus dem Leben ihrer Patienten, die das Persönliche und das Sachliche völlig ungezwungen mischt und fast den Anschein eines Romans erweckt. Behutsam führt sie durch die Geschichten und scheut nicht die Momente, in denen sie sich selbst gespiegelt sieht und reflektieren muss. Die beeindruckenden Beschreibungen reichert sie mit Informationen und Zitaten aus dem Bereich der Psychoanalyse an, welche einen kleinen Blick hinter die Kulissen des Unbewussten ermöglichen, das so viel von uns und unserem Leben ausmacht, ohne dass wir es wissen, und welche eine fundierte Grundlage bilden, die verhindert, dass das Buch von manchen als ins Esoterische abdriftend wahrgenommen werden könnte. Dank dieses Stils, der auch Laien nicht abschrecken sollte, gelingt Atlas eine direkte Ansprache einer breiten Leserschaft, die noch lange nach der Lektüre zu einer eigenen Nabelschau einlädt.
Fazit
In Emotionales Erbe führt Galit Atlas in einer fast belletristischen, sachlich jedoch sehr dichten Sprache in ein für viele sicher neues Thema ein und wagt sich damit auf unbekanntes Terrain vor. Der wissenschaftliche Informationsgehalt kommt dabei nicht zu kurz, vor allem machen die berührenden, oft sehr persönlichen Geschichten jedoch deutlich, dass echte Heilung ein komplexes, lebenslanges Projekt ist und häufig voraussetzt, es sich aber lohnt, den Versuch zu unternehmen, die Teufelskreise, welche die eigene Familienhistorie ungeahnt durchwirken können, zu durchbrechen. Handelt es sich auch weder um einen Ratgeber noch um ein Selbsthilfebuch, ist der Titel doch jedem an der Psychologie interessierten Menschen ans Herz zu legen – und inspiriert vielleicht manche dazu, selbst ein wenig „Ahnenforschung“ zu betreiben.
Deine Meinung zu »Emotionales Erbe«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!