Das sinnlose Töten am Ende des Krieges
Das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, für viele Betrachter manifestiert in der Schlacht um die deutsche Hauptstadt Berlin, ist für zahlreiche Historiker das ebenso faszinierende wie spektakuläre Finale des mehrjährigen grausamen Blutvergießens auf der ganzen Welt. Branchen-Schwergewichte wie Ian Kershaw und Antony Beevor haben seitenstarke Werke zum letzten großen Ringen zwischen den Deutschen und ihren alliierten Gegnern verfasst.
Peter Lieb ist ebenfalls Historiker und forscht am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Im Reclam-Verlag hat er jetzt ein erfrischend kurzes - 160 Seiten einschließlich Register - Buch zum Ende des Dritten Reichs in der Schlacht um Berlin vorgelegt.
In seinem knappen, aber überaus interessanten Eröffnungskapitel schildert Lieb die Flucht von zwei Gruppen junger Offiziere aus dem Berliner Führerbunker nach Westen, über die Havel und später bis zu den Linien der Amerikaner. Der Autor leitet damit seine knappe, aber gut recherchierte Erzählung der dramatischen letzten Wochen und Monate des Dritten Reichs ein.
“Die beschriebene Flucht aus dem Führerbunker steht sinnbildlich für Chaos, Zerstörung, Tod und Überleben in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs.”
Das zweite Kapitel beschreibt die militärische und politische Lage zur Jahreswende 1944/45. Peter Lieb schildert Verlauf und Scheitern der Ardennen-Offensive ebenso wie die Folgen dieser Wahnsinnsaktion. Deutschland hatte mit dem sinnlosen Angriff im Westen seine letzten Ressourcen verbraucht. Hitler setzte nun nur noch auf drei Komponenten. Er hoffte völlig anlasslos, dass die Koalition der deutschen Gegner zerbrechen würde, befahl seiner Armee immer irrationaler das Festhalten an festen Plätzen und in sogenannten Festungen. Und er wollte unbedingt die Vernichtung der europäischen Juden zu Ende bringen, um welchen Preis auch immer. Für die Anti-Hitler-Koalition gab es dagegen keinen Zweifel mehr am Sieg über Nazi-Deutschland, fraglich war nur noch der Zeitpunkt der deutschen Kapitulation.
Ungleiche Kräfteverhältnisse vor dem Endkampf
Im dritten Kapitel beleuchtet der Autor die Situation der Kontrahenten in der Endphase des Krieges. Lieb schreibt, die Wehrmacht sei zur Jahreswende 44/45 ausgebrannt gewesen. 3,6 Millionen Soldaten waren gefallen, 2,7 Millionen davon an der Ostfront. Getötete Offiziere und Unteroffiziere konnten kaum ersetzt werden, schnelle Beförderungen halfen da nicht, weil die Erfahrung fehlte. Während die Waffen-SS noch über einigermaßen kampfstarke Verbände verfügte, fiel der hastig aufgestellte Volkssturm kaum ins Gewicht - da wurden grüne Jungs und alte Männer eher verheizt.
Der Roten Armee bescheinigt Lieb dagegen, während des Krieges ihre operativen Fähigkeiten bedeutend weiterentwickelt zu haben. Beim Überfall der Deutschen und ihrer Verbündeten auf die Sowjetunion hatte die Rote Armee die Folgen der stalinistischen Säuberungswelle vom Ende der 30er Jahre noch nicht überwunden, als zwei Drittel der Generalität ermordet wurden. Nur die Weite des Landes, der russische Winter und die Ausrüstungshilfe der Amerikaner retteten die Rote Armee 1941 vor einem totalen Desaster. Am Vorabend des Sturms auf Berlin sah das anders aus. In mancherlei Hinsicht kopierten die Sowjets die Blitzkrieg-Strategie der Deutschen aus der Zeit ihrer Eroberungen. Außerdem gingen die sowjetischen Heerführer - auf Druck Stalins - ohne Rücksicht auf Mann und Material vor.
Peter Lieb schildert im vierten Kapitel den militärischen Zusammenbruch an Ost- und Westfront. Der Durchbruch der Roten Armee an der Weichsel im Januar 1945 schuf dabei die Voraussetzungen für den Vormarsch bis zur Oder, der späteren Ausgangsposition für den Sturm auf Berlin. Im Westen leisteten die Deutschen zu diesem Zeitpunkt bereits nur noch symbolischen Widerstand, dennoch untersagte Oberbefehlshaber Eisenhower seinen Kommandeuren einen Durchmarsch nach Berlin, der durchaus möglich gewesen wäre. Der Autor vertritt, wie andere Historiker auch, die These, dass Stalin seinen Truppen sogar einen Kampf gegen die Amerikaner befohlen hätte, nur um Berlin als Erster zu erobern. Aber die Westmächte machten an der Elbe Halt.
Von den Seelower Höhen zur bedingungslosen Kapitulation
In seiner Schilderung der letzten Kriegswochen präsentiert Peter Lieb interessante Details zu den letzten Kämpfen. So hat er ein Geländeprofil der Gegend rund um die berühmten Seelower Höhen und eine Statistik zu Soldaten, Panzern, Geschützen und Flugzeugen in sein Werk aufgenommen. Beides habe ich in dieser Form bei den Standardwerken zu diesem Thema bisher nicht gefunden.
Das Kartenmaterial ist so aufschlussreich, wie man es sonst allenfalls aus den Werken von Beevor kennt. Für mich völlig neu war dagegen wiederum die Liste der Personen, die sich von 21. bis 30. April im Berliner Führerbunker aufgehalten haben, sowie weitere Übersichten, etwa zu den deutschen Spitzen-Militärs, die in dieser Phase Selbstmord begingen. Neben den teilweise grausigen Einzelheiten der Schlacht um Berlin widmet sich der Autor noch der Frage, warum die Wehrmacht so lange gekämpft habe, und schildert dann die einzelnen Schritte zur bedingungslosen Kapitulation.
Fazit:
Mit seinem kurz und knapp gehaltenen Buch bringt Peter Lieb in meinen Augen die wichtigsten Zusammenhänge und Fakten auf den Punkt. Er bietet gutes Kartenmaterial, illustriert seine Darstellung mit eindrucksvollen Bildern, die seine Botschaften teilweise sehr gut unterstreichen. Daneben gibt es einige interessante Statistiken, die Fakten enthalten, die ich in den großen Werken zu diesem Thema so nicht gefunden habe. Insgesamt also entweder eine gute Ergänzung zu den bislang vorliegenden Standardwerken zum Thema, oder ein erster Einstieg, der zur weiteren Lektüre anregt. In jedem Fall ein ausgezeichnet geschriebenes und für historisch interessierte Leser spannendes Buch.
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