Ein weiterer aufzuarbeitender Missbrauchsskandal
Während der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in den Kirchen publik gemacht wurde und darauf drängt aufgearbeitet zu werden, ist das Schicksal vieler Verschickungskinder noch im Dunkeln. Was als Kuraufenthalt propagiert wurde, war oft ein Albtraum für die kleinen Patienten, die in den Heimen physischem und psychischem Missbrauch ausgesetzt sein konnten. Die Historikerin und Journalistin Hilke Lorenz hat sich bereits mehrmals mit dem Thema der Auswirkungen von Krieg und totalitären Ideologien auf Kinder und Folgegenerationen beschäftigt und beleuchtet nun dieses dunkle Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte.
Eine Gesundheitsfürsorgeindustrie machte Kasse
Schon kurz nach dem Ende des 2. Weltkrieges wurden Kinder aus den zerstörten Städten zur Erholung z. B. in den Schwarzwald, an die Küsten oder ins Allgäu geschickt. Zu dieser Zeit waren die schlechte Versorgungslage und die gerade überstandenen Kriegserlebnisse Gründe, um selbst Kleinkinder für mehrere Wochen aus dem Elternhaus zu nehmen, um sie an „die gute Luft“ zu bringen.
Der Begriff „Verschickungskinder“ zeigt noch deutlich den Sprachduktus des 3. Reiches, in dem Kinder auf das Land geschickt wurden, um den drohenden Bombenangriffen auf die Städte zu entkommen. Selbst als sich das Leben in Deutschland normalisierte, ließen die Transporte nicht nach, denn Krankenkassen und große Firmen bezuschussten diese Praxis; die Heime waren natürlich an einer profitablen Auslastung interessiert und die Ärzte erhielten saftige Bonuszahlungen für jede Kur-Verordnung.
Die einzigen Verlierer waren oftmals die Kinder, denn die Heime mussten keinen Qualitätsnachweis erbringen und so schossen die Kureinrichtungen unkontrolliert aus dem Boden. Die Verschickung wurde zu einem Massenphänomen in der Bundesrepublik. Erst als sich immer mehr einen Familienurlaub leisten konnten, die oft vorgeschobene Mangelernährung schon längst kein Thema mehr war, verlegte sich der Schwerpunkt auf Spezialkliniken, wie z.B. für Asthma oder bei Ernährungsproblemen.
Die Kinder litten teilweise entsetzlich
Leider ist im Buch nicht erwähnt, wie es zu den Begegnungen zwischen der Autorin und einzelnen Verschickungskindern kam. Jedoch haben diese Treffen sehr eindrückliche Schicksale zu Tage gebracht, die den Leser fassungslos machen.
In gut strukturierten Kapiteln wird von den psychischen und physischen Leiden berichtet. Diese begannen schon mit dem oft abrupten Abschied von den Eltern, der nicht nur für die 1- und 2-Jährigen (!!) traumatisch sein konnte. Die Lieblosigkeit und manchmal auch physische Gewalt in den Heimen waren darauf ausgerichtet, den Kinderwillen zu brechen.
Nächtliches Einnässen war aufgrund dieses enormen Stresses an der Tagesordnung und wurde natürlich wiederum umgehend sanktioniert. Die Erfolge der Heimaufenthalte wurden in den Kilos der Gewichtszunahme gemessen, was dazu führte, dass nicht nur der Teller leer gegessen werden musste, sondern auch das oft aus Ekel erbrochene Essen. Scheinbar wurde auch von dem Gebrauch des schädlichen Schlafmittels Contergan oder Spritzen mit Beruhigungsmitteln zur Ruhigstellung nicht zurückgeschreckt.
Die Liste der Bestrafungen ist endlos, die Lieblosigkeit des Personals unfassbar (es gab sogar Heimärzte die nachweislich im 3. Reich an Euthanasie-Programmen und Menschenversuchen teilgenommen hatten!). Die Folge war, dass die Kinder oft völlig verängstigt und verstört nach Hause kamen und die Bindung zu den Eltern, gerade bei den sehr jungen Kindern, wenn überhaupt, nur sehr mühsam wieder aufgebaut werden musste. Bedauerlich finde ich, dass schon der Titel des Buches eine Absolutheit impliziert, die es so aber nicht gegeben hat.
Nur kurz wird berichtet, dass es auch Heime gegeben hat, in denen die Kinder Fürsorge und Geborgenheit erfuhren und nicht alle Mitarbeiter waren ohne Schuldbewusstsein gegenüber den Zuständen und dem Missbrauch. Es gab auch Whistleblower, die allerdings oft gegen Wände liefen, denn die vorgetragenen Vorwürfe waren im wahrsten Sinne des Wortes unglaublich.
Warum hat es niemand bemerkt?
Auch diese Frage stellt die Autorin immer wieder. Die Eltern waren durch Krieg und Erziehung konditioniert. Über Missstände innerhalb einer Familie wurde meist geschwiegen, die Autorität von Ärzten und ihrer Diagnose wurde unreflektiert geglaubt. Doch warum wurde den Kindern nicht geglaubt, wenn sie versuchten über die Zustände zu sprechen? Auch das lässt sich wahrscheinlich auf die selbst gemachten Erfahrungen der Eltern zurückführen, die eben auch nur Produkte ihrer eigenen Erziehung waren, in der Kindern oftmals kein Gehör geschenkt wurde.
Erst durch die Änderungen in unserer Gesellschaft konnte sich auch verbreitet das Eltern-Kind-Verhältnis vom autoritären in ein freundschaftliches, gleichberechtigtes ändern. Jedoch glaube ich, dass der Verschickung der Kinder meistens aus der Fürsorge heraus zugestimmt wurde.
Gut recherchiert mit kleinen Abstrichen
Hilke Lorenz dokumentiert Fakten, die fassungslos machen, die dringend an die Öffentlichkeit müssen und aufgearbeitet gehören. Allerdings hat mich, wie schon erwähnt, gestört, dass im Titel des Buches oft eine Absolutheit suggeriert wurde, die es so nicht gab. Das Vorwort ist für mich jedoch gar nicht akzeptabel. Dr. Herbert Renz-Polster stellt hier eine, wie ich finde, sehr anmaßende Behauptung auf. Wobei weder er noch ein Hinweis im Buch Auskunft über seine Person geben. Wenn er in dem Vorwort behauptet, dass über der ganzen Angelegenheit der Verschickungskinder eine Omertá gelegen hätte (wie bei der Mafia gebräuchlich) die ein bewusstes Schweigen auch von Seiten der wissenden Eltern gefordert hat, geht mir das zu weit. Wenn er dann auch noch den Bogen bis zu unserem heutigen Geburtssystem und der derzeitigen Kleinkindpädagogik spannt, finde ich dieses Vorwort deplatziert und dem Thema nicht angemessen.
Fazit
Ein erschütternder Bericht über ein verborgenes Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte! Hilke Lorenz gibt den Verschickungskindern eine Stimme, die dringend gehört werden muss. Der Missbrauch an den verletzlichsten Mitgliedern unserer Gesellschaft muss aufgearbeitet und Verantwortlichkeiten müssen geklärt werden.
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