Der Untergang der "Wager"
- C.Bertelsmann
- Erschienen: April 2024
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Grausige Episode gern glorifizierter Geschichte.
Seit jeher streitet die aufstrebende See- und Kolonialmacht Großbritannien mit Konkurrenten wie Frankreich, Spanien und Portugal um einträgliche Besitzungen in Übersee. Vor allem Spanien ist ein ständiger Gegner, denn das Königreich hat sich in Süd- und Mittelamerika festgesetzt und rafft dort ungeheure Schätze zusammen, die über den Atlantik nach Europa geschafft werden. Die spanische Krone kann auf schier unerschöpfliche Geldmittel zurückgreifen, was den Neid der Briten erregt.
1740 ist wieder einmal ein Krieg ausgebrochen: Er wird nicht offen, sondern auf den Meeren und in der kolonialen Ferne geführt, wo man einander überfallen, ausrauben und alles abstreiten kann. Ende August des genannten Jahres verlassen acht Kriegs- und Handelsschiffe den Hafen von Portsmouth. Ihr Ziel ist die ‚pazifische Seite‘ des südamerikanischen Kontinents, wo sie unter dem Kommando von Kommodore George Anson spanischen Schatzschiffen auflauern, sie entern und die Ladung an sich nehmen sollen. Zu dem kleinen Konvoi gehört die „Wager“. Das 1735 gebaute Handelsschiff wurde von der britischen Admiralität gekauft und umgebaut. Nun verfügt die Fregatte über 28 Kanonen; an Bord sind 250 Mann Besatzung: Matrosen, Kanoniere und Seesoldaten.
Das Unternehmen steht unter einem Unstern. Die Umrundung Südamerikas am stürmischen Kap Hoorn treibt die Flotte auseinander. Eine Kette unglücklicher Zwischenfälle führt zu dem Schiffbruch der „Wager“ auf einer kleinen, unwirtlichen Insel vor der chilenischen Küste. Als die Lebensmittel ausgehen und Seuchen ausbrechen, bricht die Ordnung zusammen. Das ‚Recht‘ des Stärkeren regiert. Wer sich nicht wehren kann, muss sterben - und die Situation verschärft sich, je weiter die wenigen Ressourcen zusammenschmelzen ...
Seefahrt tut - und ist - Not
Die Sichtung von Spielfilmen, in denen Segelschiffe aufeinander feuern, während sie rasant die Wogen durchschneiden, sorgt für aufregende Bilder feuerspeiender Kanonen, berstender Planken und stürzender Masten. Ansonsten hält sich die Kamera ein wenig im Hintergrund, denn was geschah, wenn unglückliche Besatzungsmitglieder dort standen, wo Kanonenkugeln einschlugen und Holzsplitter durch die Luft rasten, würde den Unterhaltungsfaktor beeinträchtigen: Spritzendes Blut und zerfetzte Körper stören den heroischen Schein.
Für David Grann, der die Geschichte des kleinen, aber historisch hohe Wellen schlagenden Kriegsschiffes „Wager“ rekonstruiert hat, ist genau diese Realität ein Faktor, dem er stets den Vorrang vor jeglicher Seefahrerromantik gibt. Die hat es aus seiner Sicht ohnehin nicht gegeben, was man ihm nach der Lektüre dieses Buches uneingeschränkt glaubt: Die zeitgenössische Schifffahrt war gefährlich, schmutzig, menschenverachtend - und das auf sämtlichen Ebenen.
Grann erzählt mehr als die Geschichte eines katastrophal aus dem Ruder gelaufenen Unternehmens. Das Schicksal der „Wager“ und ihrer Besatzung ist für ihn der Spiegel einer Gesellschaft, die von einer politischen = gesellschaftlichen Hierarchie bestimmt wurde, deren auf den Zweck zielende Brutalität man sich heute kaum vorstellen kann.
Die Verdammten der Ozeane
Gern wird das Bild einer Schicksals- und Solidargemeinschaft heraufbeschworen, die vom Kapitän bis hinab zum einfachen Matrosen dafür sorgt, dass ein Schiff oberhalb der Wasseroberfläche bleibt und seinen jeweiligen Ziel- bzw. Heimathafen erreicht. Grann stellt dem einen Alltag gegenüber, der diese hehre Seefahrt und ein System bloßstellt, das auf Zwang und Druck basierte und nur bestehen konnte, weil sich die britische Admiralität nicht zu schade war, die notwendigen Besatzungen systematisch und buchstäblich einfangen und auf die dennoch unterbesetzten, nur vollmundig (bzw. dreist) behauptet einsatztauglichen Schiffe entführen zu lassen.
Kaum ein Mann, der bei Verstand war, wollte an Bord eines dieser Segler dienen, die für ihre Enge, den Schmutz, die miserable Verpflegung und die Neigung zum Untergang berüchtigt waren; nicht grundlos nannte man sie „Seelenverkäufer“. Hinzu kam ein rigoroses Regiment, das schon kleinste Vergehen unter strengste Strafen stellte. Selbst ohne dass man in ein Seegefecht verwickelt wurde, war die Gefahr groß, durch Sturm, Strandung oder eine Seuche umgebracht zu werden. Überlebte man solche Strapazen, wurde man womöglich vor Gericht gestellt, um sich für sein ‚Versagen‘ zu rechtfertigen.
Die Irrfahrt der „Wager“ war ein Spiegel solcher Verhältnisse: Wenige ausgebildete Matrosen mussten sich mit gekidnappten Anfängern, untergetauchten Strolchen, Säufern und Seekranken arrangieren. Das Schiff selbst war als umgebautes Handelsschiff nur eingeschränkt hochsee- oder gar kriegstauglich, schlecht gewartet und ausgerüstet. Der Kapitän starb, bevor man Kap Hoorn erreichte; der in die Bresche springende Leutnant David Cheap wurde von den Ereignissen überfordert.
Wehe, wenn sie losgelassen
Die vom Verfasser aufgrund zeitgenössischer Unterlagen minuziöse rekonstruierte Katastrophe ist ein Beleg dafür, was geschieht, sobald eine durch Gewalt und Angst bestimmte Ordnung zusammenbricht. Wie von der Kette gelassene Hunde beginnen sich die Überlebenden der „Wager“ zu belauern und zu zerfleischen. Wo man sich zusammenschließt, soll dies eine Übermacht bedingen, die den Schwächeren entreißt, was sie am Leben hält. Die von ihren Fesseln befreiten Männer wenden an, was sie das Leben (auf See) ‚gelehrt‘ hat: Wer die Macht hat, kann bestimmen!
Keinem Drehbuchautor würde man glauben, was an Bord der „Wager“ und später auf „Wager Island“ tatsächlich geschah. Die brutale Wucht der Ereignisse wird unter Granns Feder (bzw. Tastatur) plausibel als Kette von Ereignissen geschildert, zu denen es unter den beschriebenen Umständen kommen musste. Der Autor profitierte von einer wahren Flut zeitgenössischer Berichte, Protokolle u. a. Aufzeichnungen. Allerdings musste er gleichzeitig gewichten, denn die jeweiligen Autoren waren bestrebt, sich als Beteiligte des Dramas möglichst jenseits jeder Schuld zu schildern, um nach der Rückkehr in die ‚Zivilisation‘ einer nachträglichen Bestrafung zu entgehen. Zur Erinnerung: Nach dem Rechtsverständnis dieser Ära galt erst einmal die Besatzung vom Kapitän abwärts als verantwortlich für den Untergang ihres Schiffes!
Grann hat sich dieser Herausforderung mit Bravour gestellt. Dem Anmerkungsapparat ist zu entnehmen, durch welchen Datenwust er sich dafür arbeiten musste. Ein solches Dickicht hat der Verfasser nicht zum ersten Mal und mit ähnlichem Erfolg gelichtet: Grann ist der Verfasser des True-Crime-Bestsellers „Das Verbrechen: Die wahre Geschichte hinter der spektakulärsten Mordserie Amerikas“ (von Martin Scorcese 2023 verfilmt unter dem Originaltitel „Killers of the Flower Moon“). Leser dieses Buches kennen bereits seinen Schreibstil, der Inhaltsstärke in fesselnde Worte fasst und Geschichte auf diese Weise buchstäblich zum Leben erweckt.
Anmerkung: Ende 2006 ließ die „Scientific Exploration Society“ - die seit 1969 nicht nur die entlegenen Regionen der Meere erforscht - nach dem Wrack der „Wager“ suchen. Im recht seichten Wasser vor „Wager Island“ stieß man auf das Stück eines hölzernen Rumpfes mit Spanten und Außenplanken. Es konnte datiert werden und stammt mit hoher Wahrscheinlichkeit von der „Wager“. Eine weitere Expedition konnte im folgenden Jahr weitere Überreste bergen.
Fazit
Am Beispiel eines katastrophalen Schiffbruchs wird nicht nur die Geschichte eines historischen Kommandounternehmens rekonstruiert, sondern auch dessen Wurzeln in einem auf Gewalt und Zwang gründenden System erläutert. Die vergangene Zeit lebt als vorzüglich recherchiertes Sachbuch mit der erzählerischen Wucht eines Romans auf.
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