Der Untergang der Lusitania
- Hoffmann und Campe
- Erschienen: März 2015
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Massentod mit Vorankündigung
Wenn große Schiffe mit vielen Menschen untergehen, ist auf dem Festland das Entsetzen groß. Obwohl der Mensch seit Jahrtausenden das Meer befährt, ist ihm zumindest als Passagier das feuchte, nicht nur scheinbar allgegenwärtige und durchaus feindliche Element unheimlich - ein Gefühl, das sich erst recht einstellt, wenn man an Bord ist, während besagtes Schiff sinkt: Wasser hat bekanntlich keine Balken. Auf See verlängert die Fähigkeit zu schwimmen die Qual vor dem Tod sogar, wenn Rettung nicht zu erwarten ist. Ohnehin muss sie rasch kommen, denn Meerwasser ist im Atlantik zwar hai-frei, aber kalt und bringt irgendwann auch jene um, die durch Schwimmwesten an seiner Oberfläche gehalten werden.
In den Schreckt mischt sich Empörung, wenn nicht das Wetter oder ein Unfall den Untergang bedingt, sondern ein Torpedo, der mit der Absicht zu versenken und der Akzeptanz des massenhaften Tötens abgefeuert wurde. Dies gilt erst recht, wenn besagter Torpedo kein Kriegsschiff, sondern einen gänzlich unbewaffneten Dampfer trifft, auf dem sich ausschließlich Zivilisten aufhalten - Männer und Frauen jeglichen Alters sowie Kinder.
Genau dies geschah am 7. Mai 1915 unweit der englischen Küste. Der Erste Weltkrieg hatte erst von einigen Monaten begonnen, war aber auf dem europäischen Kontinent bereits zu einem Grabenkampf erstarrt. Entlang einer hunderte Kilometer langen, mehr oder weniger ortsfesten Front rieben sich die Gegner in einem Blutbad auf, das keiner Seite einen Vorstoß ermöglichte.
Das Deutsche Reich wurde zusätzlich durch eine britische Seeblockade von dringend benötigten Nachschublieferungen abgeschnitten. Eine neue Waffe sollte Abhilfe schaffen: das U-Boot. Unter Wasser schlich es sich an feindliche Schiffe heran und versenkte sie. Dabei wagte man sich nicht an gut bewaffnete und wendige Kriegsschiffe, sondern nahm Frachter ins Visier - und bald auch Passagierdampfer. Zusätzlich wurden Schiffe eigentlich neutraler Nationen beschossen, die kein Problem damit hatten die Briten zu beliefern oder zu besuchen. Man wollte sie abschrecken und ignorierte im Glauben auf einen daraus resultierenden und nahen Sieg die möglichen Konsequenzen.
Schuldflüche und Erklärungen
Ein Jahrhundert später greift der auf historische Themen spezialisierte Schriftsteller Erik Larson den Untergang der „Lusitania“ auf. Er nutzt das Ereignis für den Blick auf eine zeitgenössische Welt, die in einen Krieg gerät, den die Beteiligten in seinem Wesen nicht begreifen und der sie in jeder Hinsicht überfordert. Der Torpedoschuss auf einen Passagierdampfer fügt sich in dieses Durcheinander ein, das Larson unter Nutzung erhaltenen Quellenmaterials nicht nur entwirrt, sondern wie einen Tatsachenroman schildert, ohne dabei die Fakten zu vernachlässigen. Entstanden ist eine Darstellung, die vor allem (aber nicht nur) Laien fesselt, die sich mit dem Thema bisher kaum oder gar nicht beschäftigt hatten.
Die Versenkung der „Lusitania“ erregte weltweit Aufsehen. Zorn flammte auf der einen, Begeisterung auf der anderen Seite auf - letztere in Deutschland, wo man sich darüber freute, das Symbol eines mächtigen Feindes zerstört zu haben. Fern des Untergangs konnte man das Bild verzweifelt und vergeblich um ihr Leben kämpfender Menschen problemlos verdrängen.
Damit scheint die Rolle des Bösewichts festzustehen: Kapitän Schwieger, Kommandant des deutschen „U-20“, galt ohnehin als ehrgeiziger, mitleidsarmer Jäger, den das Schicksal der Besatzungen, die er ins Meerwasser zwang, kaum kümmerte. Doch Larson enthüllt, dass es so simpel nicht war. An dieser Stelle würde es zu weit führen, den Argumentationsstrang nachzuzeichnen. Es soll genügen zu erwähnen, dass der Autor sich um Ausgewogenheit bemüht und auch die Fehler der britischen Marineführung offenlegt, die der „Lusitania“ wirksamen Begleitschutz versagte, obwohl man von deutscher Seite ausdrücklich gewarnt war sowie aus aufgefangenen Funksprüchen wusste, dass sich mindestens ein deutsches U-Boot genau dort aufhielt, wo sich die „Lusitania“ der britischen Insel näherte.
Murphy’s Law im Stresstest
Larson schildert minutiös die letzte Fahrt der „Lusitania“, die in New York begann. Er beschreibt das Schiff, greift sich exemplarisch Mitglieder der Besatzung und Passagiere heraus. Auf uralten, verblichenen Fotos und stummen Filmen können wir sie noch ‚sehen‘, doch Larson stellt sie uns als Menschen vor. Er beschränkt sich nicht auf den Kapitän und Bord-Prominenz, sondern berücksichtigt auch diejenigen, die im Bauch des Schiffes schufteten oder in bullaugenlosen Billig-Kabinen hausten.
Dieselbe Sorgfalt widmet Larson der „U-20“. Er klärt auf, wieso das Unterseeboot als ‚Wunderwaffe‘ der Deutschen Marine galt, die in ihrer Not einfach ausblendete, dass es auf Dauer nicht gutgehen konnte ,Schiffe zu versenken, die neutrale US-Amerikaner beförderten. An Bord der deutschen U-Boote lauerten keine Killer, sondern dienten Soldaten, die vom Sinn ihres Tuns überzeugt waren, deshalb taten, was sie für ihre Pflicht hielten, und oft genug in den noch primitiven, engen und schmutzigen Unterwassergefährten umkamen. Wiederum bleibt Larson unparteiisch.
Im Nachhinein quält Larsons schlüssige Darlegung einer langen Ereignis- und Zufallskette, die „Lusitania“ und „U-20“ exakt dort zusammenführte, wo sie sich eigentlich nie hätten treffen sollen. Was schiefgehen kann, geht manchmal einfach schief, obwohl es dieses Mal in einem bizarren ‚Erfolg‘ gipfelte: Ein einziger Torpedo ließ ein 240 Meter langes Schiff binnen weniger Minuten sinken, was 1200 Menschen das Leben kostete, obwohl das Meer ruhig und die Küste bereits in Sichtweite war. Larson greift auf die Erinnerungen von Überlebenden zurück, die nie vergessen konnten, was man ihnen angetan hatte. Die Ironie entging auch den Zeitgenossen nicht: Nur drei Jahre zuvor hatte ein unglücklich übersehener Eisberg die ‚unsinkbare‘ „Titanic“ mit 1500 Menschen auf den Grund des Atlantiks geschickt. Dass die „Lusitania“ mit Rettungsbooten und -westen bestens ausgestattet war, ersetzte nicht den unzureichend geprobten Umgang damit.
Wertung und Weiterleben
Larson entzaubert einen weiteren Mythos: Es war nicht der Untergang der „Lusitania“, der die USA 1917 an die Seite der Alliierten treten ließ; ein Schritt, der den Krieg für das Deutsche Reich besiegelte. Um das Ende der „Lusitania“ ranken sich ohnehin Verschwörungstheorien: Hatte die „Lusitania“ heimlich und widerrechtlich Munition und Waffen für die Briten geladen? Wollten die Briten womöglich den Untergang, um auf diese Weise die USA zum Kriegseintritt zu veranlassen? Solche und andere Fragen klärt Larson, wenn es möglich ist. Wo Belege fehlen (und Verschwörungstheoretiker trotzdem ihren Wirrgeist sprühen lassen), hält er inne und überlässt zukünftigen Forschern die Auswertung weiterer Informationen.
„Der Untergang der Lusitania“ ist eine spannende Lektüre, ohne dabei den Boden der Tatsachen zu verlassen. Larson kann nicht nur berichten, sondern auch erzählen, was ein Talent ist, das Sachbuchautoren oft abgeht. Sie flüchten sich in Details und Anekdoten. Die hat auch Larson reichlich recherchiert. Im Haupttext zwingt er sie in den Dienst der Gesamtdarstellung. Erst im Anmerkungsapparat geht es lockerer zu. Der Autor weist darauf hin, dass er sich hier den Luxus gönnt, ein wenig abzuschweifen, weil er sich von einem interessanten Fakt nicht trennen wollte.
Schade ist der Verzicht auf Bildmaterial. Larson versucht meist erfolgreich, es beschreibend zu ersetzen, aber das funktioniert nicht immer. Gern hätte man auch etwas über das Wrack und seine Erforschung erfahren. Anders als die „Titanic“ lässt es sich vergleichsweise unkompliziert untersuchen. Andererseits konnten entsprechende Tauchgänge nicht an den Fakten rütteln, die uns Larson präsentiert. Insofern ist seine Konzentration auf die zeitgenössische Vergangenheit legitim.
Fazit:
Detailreiche, die zeitgenössischen Ereignisstränge herausschälende Darstellung eines berühmten Schiffsuntergangs. Ohne Partei zu ergreifen schildert der Autor den Weg ins Verderben („Lusitania“) bzw. zum ‚Triumph‘ („U-20“), weitet aber den Blickwinkel darüber hinaus auf den Kriegsalltag des Jahres 1915, wodurch die Katastrophe in einen begrifflichen Zusammenhang gestellt wird: ein gutes sowie gut geschriebenes Sachbuch.
Erik Larson, Hoffmann und Campe
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