Der lange Weg vom Schlächter zum Retter
Wer heutzutage glaubt, sich aufregen zu dürfen, weil er (oder sie) länger als gewünscht auf eine Blinddarm- oder Meniskus-OP warten muss, greife zu diesem Buch. Es führt zurück in die noch gar nicht so lange vergangene zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und eine Zeit, als ein Arztbesuch eine heikle Angelegenheit war und schnell zu einer Angelegenheit auf Leben und Tod werden konnte, wobei letzterer nicht unbedingt das schlimmste Schicksal darstellte: Noch in den 1840er Jahren wurden Operationen generell ohne Betäubung durchgeführt - ein Horror, den man sich dank der Autorin des hier vorgestellten Sachbuchs nicht ausmalen muss, da sie diesen Part voller Elan und unter Einsatz deutlicher Zitate übernimmt.
Der deutsche Titel kann mit der Wucht des Originals nicht mithalten: „The Butchering Art“ beschreibt wesentlich zutreffender das Wirken zeitgenössischer ‚Chirurgen‘, die in der Hierarchie der Medizin als Handwerker galten und ganz weit unten standen - dies auch deshalb, weil dem Horror ihres (wie gesagt betäubungsmittelfreien) Einsatzes die mehr als ungewisse Phase der Heilung folgte. Hygiene war in der Krankenbetreuung ein absolutes Fremdwort. Lindsey Fitzharris hat auch hier wahrlich drastische, aber der schaurigen Wirklichkeit entsprechende Beispiele gesammelt, die der beschriebenen ‚Medizin‘ ein Grauen einhauchen, das sich auch im 21. Jahrhundert zuverlässig einstellt.
Da wurden Arm- und Beinverletzungen ‚behandelt‘, indem man das Glied stracks absägte: Das ging schneller als eine komplexe Wundversorgung, die wahrscheinlich eine Entzündung, Fäulnis bei lebendigem Leib und einen grässlichen Tod brachte. Von „Keimen“ oder „Bakterien“ wusste man nichts, weshalb Chirurgen in selten gewechselter Alltagskleidung an OP-Tischen standen, die ebenfalls nur oberflächlich ‚gereinigt‘ wurden, bevor man den nächsten Pechvogel darauf festband. Auch das Operationsbesteck blieb schmutzig, blutig und eitrig, was im Bund mit einer Sparsamkeit - die eine Wiederverwendung (verseuchter) Verbände, den möglichst seltenen Wechsel der Bettwäsche und überfüllte Patientensäle beinhaltete - dazu führte, dass die Kranken noch zahlreicher als die sprichwörtlichen Fliegen starben. Kein Wunder, dass man das Krankenhaus mied, wenn es möglich war, weil selbst ein heute eher lästiger Eingriff nur zu oft ein Todesurteil darstellte!
Fortschritt allein ist nicht die Lösung
Als die Betäubung endlich erfunden war und sich durchgesetzt hatte, sank die Zahl der Todesfälle nicht etwa, sondern stieg sogar: Da die Patienten nicht mehr schrien und sich wehrten, schnitten die Chirurgen nunmehr öfter und tiefer, während die Hygiene weiterhin ausgesperrt blieb. Gleichzeitig nahm im Zuge der Industriellen Revolution die Bevölkerung in den Städten immer weiter zu. Die Krankenhäuser wuchsen, aber sie blieben schmutzig, weshalb mehr Menschen als jemals zuvor sie nur mit ebensolchen Füßen voran verließen.
Autorin Fitzharris, die sich als Historikerin auf die (britische) Medizingeschichte spezialisiert hat und einen sehr beliebten Blog führt, in dem sie über die steinigen (Irr-) Wege der Heilung informiert, verknüpft ihre Darstellung einer „frühen“ Medizin (die ihren Namen kaum verdiente) mit der Biografie des Arztes Joseph Lister (1827-1912), der als „Vater der aseptischen Chirurgie“ gilt und jene Kurskorrektur mit- bzw. hauptverantwortete, die das Elend eindämmte. Dies ist hilfreich, weil es der Darstellung einen roten Faden gibt, während die deutsche Ausgabe eher eine Anekdotensammlung schauriger Umtriebe (organisierter Leichendiebstahl, Obskur-Versuche, bizarre Fehldiagnosen und ihre Folgen) verspricht und Lister den im Untertitel angekündigten „Kampf“ nur am Rande gegen „Kurpfuscher, Quacksalber und Knochenklempner“ führte, sondern gegen durchaus angesehene Mediziner und Forscher.
Lister ‚führt‘ uns quasi durch diese dunkle Epoche der Medizin. Zu ihm kehrt die Autorin immer wieder zurück, wenn sie den Blickwinkel zwischendurch erweitert und Themenrelevantes aus anderen (englischen, europäischen und US-amerikanischen) Städten und Staaten berichtet hat. Lister war kein einsamer Heilsbringer, was er, wie Fitzharris belegt, auch nie behauptete. In einer wichtigen Phase der Medizingeschichte stand er im Brennpunkt, doch er hatte Kollegen (und Konkurrenten), die ihn unterstützten (oder bekämpften) und auf deren Erkenntnissen er aufbauen (oder die er im besten Fall überzeugen bzw. abwehren) konnte.
Der übliche Kampf gegen zeitlose Windmühlenflügel
Diese Auseinandersetzungen fanden jenseits des Operationssaals statt, sodass kein Leser erwarten sollte, dass Fitzharris ständig in Blut, Schmerz und Grausen schwelgt. Wissenschaftler streiten durchaus erbittert, aber sie beschränken sich meist auf die Schreibfeder (und die üble Nachrede, wie Lister mehrfach erfahren musste). Ohnehin ist „Der Horror der frühen Medizin“ ungeachtet des Themas ein ‚leichtgewichtiges‘ Sachbuch, was keineswegs als pauschale Abwertung gemeint ist. Viele Autoren übertreiben es in ihren Darstellungen. Über Jahre haben sie einsam in staubigen Archiven recherchiert (um ein beliebtes, nicht gänzlich überholtes Bild zu bemühen) und können sich von den ans Tageslicht beförderten Fakten nicht trennen, auch wenn das gewählte Thema sie in dieser Dichte (und Wiederholung) nicht benötigt: Wie Romane können auch Sachbücher durch Umfang ersticken.
Fitzharris kommt dagegen auf den Punkt. Da es sich um ein Sach- und kein Fachbuch handelt, es also um die möglichst verständliche Verbreitung von Fakten geht, ist es außerdem kein elementares Manko, dass die Autorin nur selten Primärquellen - sie zitiert vor allem aus Listers umfangreicher, glücklicherweise archivierter (Privat-) Korrespondenz - heranzieht, sondern sich auf Monografien, Biografien, Aufsätze u. a. Sekundärquellen stützt. Aus diesem Material arbeitet sie ihr Thema heraus, was angesichts der Flut potenziell wichtiger Unterlagen das Expertenurteil erforderte.
Leider fehlen Abbildungen. Fitzharris erwähnt mehrfach Gemälde, medizinische Zeichnungen u. a. zeitgenössische Belege, die man als Leser gern sehen würde. Auch nach Fotos der ‚Hauptfiguren‘ oder der Orte, an denen sie wirkten, muss man auf eigene Faust im Internet suchen. Von Interesse ist eine schier endlose Danksagung, aus der sich erschließen lässt, dass dieses Buch während einer Lebenskrise der Autorin entstand und mehrfach auf der Kippe stand. Dass es erschien, ist nicht nur für Lindsey Fitzharris, sondern auch für ihre Leser erfreulich. Weder medizinisches noch historisches Vorwissen ist erforderlich für die Lektüre dieses Buches, das erfolgreich der Aufgabe dient, zu interessieren und zu informieren.
Fazit:
Was heute selbstverständlich ist, erhob sich aus einem schauerlichen Pfuhl des Unwissens und der Ignoranz - eine Medizin, die nicht in Todesangst versetzt, sondern Leben rettet. Lindsey Fitzharris beschreibt einerseits bündig, andererseits zitat- und anekdotenreich eine wichtige Episode dieses Wegs: kein bahnbrechendes, aber ein lesenswertes Sachbuch.
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