Eine lohnenswerte Auseinandersetzung mit Kästners Leben während der NS-Zeit.
Es ist der 10. Mai 1933, als der auch international erfolgreiche Autor Erich Kästner miterlebt, wie die Nazis bei der Bücherverbrennung auf dem Opernplatz in Berlin auch seine Werke in die Flammen werfen. Der nationalsozialistischen Führung war Kästner längst als populärer, weltläufig-großstädtischer Asphaltliterat verhasst. Dieses nachhaltige Erlebnis der Bücherverbrennung wird gezwungener Maßen zu einem Einschnitt in Kästners Leben. Er muss sich entscheiden: Soll er wie zahlreiche andere Schriftsteller und Künstler aus Deutschland fliehen oder bleibt er in seiner Heimat? Trotz Publikationsverbot entscheidet sich der gebürtige Dresdner zu bleiben. Er schreibt unter Pseudonymen, übernimmt Auftragsarbeiten, zuletzt 1942 auch für die Ufa, die längst von Goebbels politisch instrumentalisiert wird - und hat Erfolg: beruflich wie finanziell. Aber Kästners Tätigkeit und seine schriftstellerische Anerkennung werfen Fragen auf: Wie weit passte er sich im Dritten Reich an, wo bekannte er Farbe? Wie schmal war der Grat, auf dem er wandelte?
Autor Tobias Lehmkuhl entwirft ein differenziertes Bild des erfolgreichen Autors während der Herrschaft des NS-Regimes. Er zeigt dabei Kästner als „doppelten Erich“: zum einen als einen Menschen, der bis zur Machtergreifung der Nazis diese gerne auch satirisch angriff und sie vehement ablehnte, und zum anderen als eine Person, der Anbiederung auch aus finanziellen Gründen nicht fremd war. Lehmkuhl löst diesen Widerspruch nicht auf, sondern versucht anhand episodenhafter Geschichten aus dieser Zeit dem Wesen des bekannten Autors näher zu kommen: eines Menschen, der durch die Machtübernahme der Nazis und der zunehmend existenziellen Bedrohung der eigenen Lebens- und Schreibsituation anscheinend zwei Gesichter offenbart.
Kästner als Grenzgänger
Autor Tobias Lehmkuhl, geboren 1976, studierte in Bonn, Barcelona und Berlin. Seit 2002 arbeitet er als freier Journalist und Literaturkritiker, u. a. für „Die Zeit“, Deutschlandfunk und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. 2018 erschien seine viel gelobte Biografie über „Nico“, eine der Ikonen der Pop-Kultur. 2017 erhielt Tobias Lehmkuhl den Berliner Preis für Literaturkritik.
In seiner aktuellen Biografie über Erich Kästner, die in ihrer Kürze und ausschnitthaften Darstellung nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sucht Tobias Lehmkuhl vor allem nach Gründen für Kästners Verbleib in Deutschland sowie für sein Handeln und seine schriftstellerische Tätigkeit in dieser Zeit. Dabei offenbart sich ein durchaus ambivalenter Charakter des durch seine Kinderbücher wie „Emil und die Detektive“ (1929), „Pünktchen und Anton“ (1931), „Das fliegende Klassenzimmer“ (1933) und seinen Roman „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ (1931) bis zu seinem Publikationsverbot in Deutschland bereits erfolgreichen Schriftstellers. In seinem Verhalten und Auftreten darf Kästner sicherlich als Grenzgänger bezeichnet werden. Gleichwohl suchte er wie viele andere Autoren, die nicht ins Exil gingen, seine Nische, in der er sich von den neuen Machthabern möglichst unbeachtet fühlen konnte. Dennoch blieb der Autor auch Antworten schuldig. Neben des engen Kontaktes mit seiner Mutter, mit der er im regelmäßigen Briefaustausch stand, nannte Kästner als weiteren Grund für seinen Verbleib stets, dass er Augenzeuge sein wolle und als Chronist einen Roman über das Dritte Reich schreiben würde. Doch weder lassen sich laut Lehmkuhl in den ersten acht Jahren der Naziherrschaft Notizen nachweisen, noch ließen sich in seinen Tagebuchaufzeichnungen („Blaues Buch“), die er ab 1941 mit Unterbrechungen bis 1945 schrieb, Hinweise darauf finden. Im Gegenteil: Privates und vor allem seine Gefühle hielt er hier nicht fest.
Anpassung und Veränderung
Auch wenn Kästner keinen Roman über die Nazidiktatur schrieb, blieb er trotz Publikationsverbots, das sich aus der Ablehnung eines Antrages, in die Reichschriftumskammer aufgenommen zu werden, ergab, äußerst produktiv. Seine Werke veröffentlichte er fortan im Schweizer Atrium Verlag. Aber Kästner stellte sein Schreiben um: Statt Gedichte und Romane mit künstlerischen Anspruch schrieb er nun Unterhaltungsliteratur in Form satirefreier Komik. Romane wie „Das lebenslängliche Kind“ (1934, im Ausland und in der Nachkriegszeit als „Drei Männer im Schnee“ vermarktet), „Die verschwundene Miniatur“ (1935) und „Georg und die Zwischenfälle“ (1938, später unter dem Namen „Der kleine Wechselverkehr“) erscheinen. Auch hier zeigt sich, dass Kästner ein Meister der Anpassung war. Dennoch unternimmt er 1938 - wohl aus schierer Existenzangst - einen weiteren Versuch, in die Reichschrifttumskammer aufgenommen zu werden, was erneut abgelehnt wird. Kästner, der die Bitte um Aufnahme durch seinen Anwalt vortragen lässt, distanziert sich dabei nicht nur von seinen alten Texten, sondern will sich sogar in den Rahmen der nationalsozialistischen Kunst und Kulturpolitik einfügen, was einem Verrat an seinen Idealen gleichkommt.
Moralist, aber nicht moralisch?
Aber wie passt dies zum Bild eines Erich Kästner als großen Moralisten, wie er stets dargestellt wird? Wieso trat er in der Zeit des NS-Regimes nicht vehement für seine Werte ein? Hier nimmt ihn Autor Tobias Lehmkuhl in Schutz: „Der Moralist ist kein Mensch der Tat, sondern der Kontemplation, und das in einer Zeit und gesellschaftlich-politischen Situation, die wie keine andere zuvor Handeln und Widerstand verlangen würde. Der Moralist kann nicht aktiv werden, denn sonst wäre er kein Moralist.“ Kästner ist also kein moralisch höher stehendes Wesen, kein per se guter Mensch. Er ist ein Beobachter, der das Verhalten seiner Zeitgenossen betrachtet und sich hierfür interessiert. Kästner ist dann doch in erster Linie Mensch, dem es auch schwer fällt, den zuvor erarbeiteten Erfolg, sein Ansehen und vor allem seinen Wohlstand, den er auch während der Naziherrschaft besaß, einfach aufzugeben. Dies mag einer der Gründe sein, warum er Deutschland nicht den Rücken kehrte. Dies entschuldigt jedoch nicht, dass Kästner große Teile seines Tagebuchs von 1945, das er 1961 unter dem Titel „Notabene 45“ veröffentlichte, im Nachhinein umschrieb und ergänzte: „Kästners Eingriffe ins eigene Tagebuch sind massiv und massiv verzerrend. Er macht sich im Nachhinein eben doch schlauer und vorausschauender, als er in Wirklichkeit war“, so Tobias Lehmkuhl.
Fazit
Autor Tobias Lehmkuhl gelingt eine knappe, aber detailreiche, gut recherchierte und klug aufgebaute Biografie eines der bekanntesten Schriftsteller Deutschlands, die aber nicht ganz frei von Redundanzen ist. Wie nur ganz wenige vor ihm traut sich der Tobias Lehmkuhl aber, Kästner und sein Leben während der Herrschaft der Nationalsozialisten zu hinterfragen. Gleichwohl kann er am Ende auch zu keinem eindeutigen Bild des Schriftstellers kommen. Eine vielfältige, ungemein lebendige und notwendige Biografie, die dadurch mehr als lesenswert ist.
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