Der chinesische Paravent

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  • Erschienen: März 2024
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Michael Drewniok
8101

Sachbuch-Couch Rezension vonDez 2024

Wissen

Ein komplexes, zusätzlich emotional aufgeladenes Thema wird sachkundig und allgemeinverständlich dargestellt.

Ausstattung

Jedes der elf vorgestellten Artefakte wird in zwei Fotos (Ganzansicht bzw. Detailaufnahme) gezeigt.

Zivilisationsstifter auf Beutejagd.

1884 gesellte sich das Deutsche Reich offiziell zu jenen (europäischen) Mächten, die sich große Teile der Erde als „Kolonien“ angeeignet hatten. Schon vorher waren private Kaufmannschaften dort aktiv gewesen, wo es Geld mit Rohstoffen und Waren zu verdienen gab, die man in der Fremde billig ‚erwerben‘ und daheim teuer verkaufen konnte. In den folgenden drei Jahrzehnten sorgte deutscher Imperialismus-Elan dafür, dass man - obwohl erst spät dazugestoßen - ein Viertel der Erboberfläche an sich bringen und sich zu Herren über Menschen aufschwingen konnte, die bisher sehr gut ohne solche ‚Unterstützung‘ zurechtgekommen waren.

In China, Ozeanien und vor allem in Afrika machten sich die Deutschen breit. Bis 1918 - die Niederlage im Ersten Weltkrieg bereitete den deutschen Kolonien ein Ende - wurde mit dem schon erwähnten Elan unterdrückt, ausgebeutet und bei Widerstand getötet; letzteres erbarmungslos, denn der deutsche Herrenmensch, der die „primitiven Naturvölker“ angeblich anleiten und „zivilisieren“ wollte, duldete keinen Widerspruch.

Hinzu kam die systematische Ausplünderung von Land und Leuten. Ein Heer abenteuerlustiger und skrupelloser ‚Entdecker‘, Abenteurer und Geschäftemacher fiel über die Kolonien her. Was gefiel, wurde bestenfalls gekauft, oft genug aber gewaltsam an sich genommen. Binnen weniger Jahren quollen die deutschen Museen quasi über, denn wer auf sich hielt, betätigte sich ‚kulturschaffend‘ als edler Stifter. Dass viele dieser Exponate unter fragwürdigen Bedingungen außer Landes geschafft wurden, zählte im Namen der Wissenschaft nicht: ‚Sammler‘ schreckten nicht davor zurück, auf der Suche nach Schädeln und Knochen Gräber zu schänden oder auf den Schlachtfeldern nach von deutschen Maschinengewehrkugeln nicht gar zu sehr zersiebten Opfern zu suchen, die anschließend professionell entfleischt, verpackt und nach Deutschland geschickt wurden.

Nehmen ist befriedigender als geben

Nach vielen tatenlosen Jahrzehnten ist das Thema „Raubgut“ im Rahmen der Aufarbeitung nazideutschen Unrechts in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Der Blick richtet sich auf weitere, nicht immer juristisch, doch auf jeden Fall moralisch zu verdammende Taten aus einer weiter zurückliegenden Vergangenheit. Das geschieht nicht nur in Deutschland, sondern in sämtlichen Staaten, die einst Kolonialmächte waren (und es manchmal noch sind). Diese Diskussion ist mit Emotionen aufgeladen (und manchmal überladen). Unrecht kann zwar verdrängt werden, verschwindet aber zum Kummer der dafür Verantwortlichen nicht von selbst. Nachfahren pochen auf Entschuldigung und Entschädigung.

Das Thema ist ein Minenfeld. Vor allem der Raub ritueller und religiöser Artefakte und die Verschleppung toter oder getöteter Familienangehöriger geriet in den ehemaligen Kolonien keineswegs in Vergessenheit. Gleichzeitig sträubten (und sträuben) sich viele Museen und Sammlungen, die um ihre Bestände fürchten, identifiziertes Raubgut herauszugeben. Nur langsam kommen Rückführungen in Gang, wobei zäh und manchmal unwürdig um jedes Objekt gestritten wird.

Die Kunstkritikerin und Journalistin Nicola Kuhn beschäftigt sich intensiv mit diesem Aspekt der Kolonialgeschichte; dies auch deshalb, weil ihre Großeltern diverse Souvenirs aus eigenen kolonialen Jahren mit nach Deutschland gebracht und gehütet hatten. Kuhn fiel erbfallbedingt ein Paravent aus China zu, der diesem Buch den Titel gibt. Um dessen Herkunftshistorie kreisten ihre Gedanken. Die Corona-Krise und die daraus resultierende Zwangspause im Homeoffice ließ den Gedanken aufkeimen, nicht nur in diesem Fall intensiv zu recherchieren, sondern die Betrachtung auszuweiten: Außer Museen u. a. Einrichtungen haben sich auch jene Männer und Frauen mit (Raub-) Gut aus deutschen Kolonien eingedeckt, die den kolonialen Alltag erst ermöglichten: Verwaltungsbeamte, Soldaten, Geschäftsleute und ihre Familien waren über Jahre außerhalb des deutschen Reiches präsent und nutzten die Gelegenheit. Sie ‚sammelten‘ oder rafften und schickten solche Objekte in die ‚Heimat‘, wo sich Angehörige und Freunde und später sie selbst sich damit brüsten konnten.

Mit dem Unrecht lässt sich leben

Kuhn tat sich mit ähnlich interessierten Kolleginnen und Kollegen zusammen. Gemeinsam wählte man elf Objekte aus, wobei nicht deren Geldwert im Vordergrund stand, sondern die emotionale Bedeutung. Nicht nur die Bewohner der Kolonien, sondern auch ihre „Herren“ hingen an Stücken von kultureller oder historischer Bedeutung, wobei solche Artefakte mit gänzlich unterschiedlichen Inhalten aufgeladen wurden.

Zum chinesischen Paravent gesellen sich deshalb nicht nur Silbergeschirr oder einst Kriegern vorbehaltene Waffen, sondern auch scheinbar obskure, wertlose Dinge: ein ausgestopfter Papagei, der ramponierte Schädel einer Hyäne, das Foto eines gestürmten „Eingeborenendorfes“. Die Autoren legen dahinter Geschichten frei, um das Bild der auch nach 1918 lange nostalgisch verklärten Kolonialzeit zurechtzurücken. Sie entschlüsseln Mythen, entschleiern Ausreden und stoßen stets auf bittere Wahrheiten. Diese Geschichten werden in das kolonialhistorische Umfeld eingeordnet.

Das sorgt für Unbehagen. Viele Familien hüten die von weit gereisten und verehrten Groß- und Urgroßeltern ererbten Stücke. Sie stellen eine „Exotik“ in den Vordergrund, die sorgfältig von der nicht schmeichelhaften Wahrheit befreit wurde. Kuhn & Co. stießen bei heutigen Eigentümern oft auf eine quasi postkoloniale Argumentation, die sich darauf beruft, dass einst begangenes Unrecht historisch geworden sei und deshalb unter Berücksichtigung der zeitgenössischen Sichtweise/n bewertet = ein Schlussstrich gezogen werden müsse.

Kuhn und die anderen Autoren votieren eindeutig für die Rückführung einstigen Raubgutes, verschweigen aber nicht die Problematik des heiklen Themas, über dem stets drohend die Keule des „politisch Korrekten“ schwebt, womit es sich multimedial instrumentalisieren lässt. So manches Artefakt wurde unter großer internationaler Anteilnahme zurückgegeben - und landete in seinem Heimatland unbeachtet im Depot, weil sich über die Rückführung hinaus nicht wirklich jemand für diese Zeugnisse interessiert oder schlicht die Mittel für ihre Aufarbeitung, Pflege und Ausstellung fehlen. Nicht jedes Stück mit kolonialem Hintergrund muss zurückgegeben werden, weil es keine historische, religiöse oder emotionale Bedeutung besitzt. Kuhn macht aber deutlich, dass die Eigentümer im Zweifelsfall (oder überhaupt) bei Fachleuten nachfragen und einschlägige ‚Andenken‘ zurückgeben sollten.

Fazit

Was Vorfahren einst an sich rafften, haben sich ihre Nachkommen ‚ersessen‘: Dass es so einfach nicht ist, wird hier anhand buchstäblich handfester Einzelstücke aus der deutschen Kolonialvergangenheit anschaulich erläutert. Ein lange verdrängtes Kapitel fortgesetzten Übersee-Unrechts wird aufgeschlagen; entstanden ist ein hochinteressantes Sachbuch, dessen Autoren wichtige Fragen stellen, die nicht immer eindeutig beantwortet werden können.

Der chinesische Paravent

Nicola Kuhn, dtv

Der chinesische Paravent

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