Der Aufsteiger

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Andreas Kurth
7101

Sachbuch-Couch Rezension vonJan 2021

Wissen

Das Buch ist flüssig zu lesen, der Autor hat einen Berg an Fakten zusammengetragen, geordnet und thematisch abgearbeitet. Wissenschaftlich eine saubere Arbeit, schriftstellerisch zuweilen leicht am Thema vorbei.

Ausstattung

Die Entwicklung von Deutschland ist ohne Europa schwer zu verstehen

Manche Historiker interessieren sich überhaupt nicht für Ereignisse und Entwicklungen in der jüngsten Zeit. Nicht so Edgar Wolfrum. Er ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg. Und da er bereits zur Geschichte der Bundesrepublik von 1949 bis 1990 geforscht, und seine Ergebnisse in einem Buch veröffentlicht hat, lag es für ihn offenbar nahe, sich nach der Bonner auch mit der Berliner Republik zu befassen, wie sie nach dem Umzug des Regierungssitzes auch gerne genannt wird. Wolfrum schildert dabei die Geschichte nicht chronologisch, sondern hat seine Kapitel nach speziellen Themenbereichen angelegt.

“Zaudernder Riese und verunsicherte Demokratie? Fragen an Deutschland” ist der erste Abschnitt überschrieben. Und der Autor benennt gleich eine erste Täuschung bei der Gründung der Berliner Republik. Der berühmt gewordene Satz von Bundeskanzler Helmut Kohl von den blühenden Landschaften, die schon bald entstehen würden, hat viele Menschen geblendet - ist aber nie so Realität geworden, wie sich das viele Bürger vorgestellt haben. Die weiteren Täuschungen - im Laufe der Zeit: es gibt weiter autoritäre Regime, es entwickelt sich kein Zeitalter fortwährender Glückseligkeit, und schließlich gibt es keine solidarische Lösung für den Klimawandel. Und in Deutschland ist der Katzenjammer nach der Wiedervereinigung groß.

Euphorie und Aufbruch der Wiedervereinigung verflogen rasch. Vor kurzem lagen sich die Deutschen noch in den Armen, nun lagen sie sich in den Haaren. Es kam angesichts vielfältiger Schwierigkeiten zur “Wiedervereinigungskrise”. Die Privatisierung der DDR-Wirtschaft erwies sich als ein riesiges Problem, im gesamtdeutschen Kontext blieb vieles liegen, Reformen wurden nicht in Angriff genommen.

Den schwierigen Wandel von der Bonner zur Berliner Republik macht Wolfrum auch an Wahlergebnissen fest. 1998 wird Einheits-Kanzler Helmut Kohl nach 16 Regierungsjahren abgewählt, erstmals gibt es unter Gerhard Schröder eine rot-grüne Koalition auf Bundes-Ebene. mit seiner Agenda 2010 hilft der SPD-Kanzler dann der Partei “Die Linke” in den Sattel, zuvor hatten SPD und Grüne lernen müssen, dass die Zeit nach dem kalten Krieg zwischen den großen Machtblöcken keineswegs ein friedliches Zeitalter ist. Der Beteiligung am Kosovo-Krieg folgt immerhin die Weigerung, an der Eroberung des Irak teilzunehmen.

Mit der ersten Koalition unter Führung von Angela Merkel bricht dann 2005 eine neue Ära an. An der Spitze von CDU/CSU/SPD-Koalitionen - nur unterbrochen von 2009 bis 2013 - prägt die Physikerin aus der Uckermark fortan die deutsche Politik. Und auch das führt zu dem von Wolfrum beschriebenen tiefgreifenden Wandel im deutschen Parteiensystem.

In den weiteren, thematisch orientierten Kapiteln geht es unter anderem um kriegerische Auseinandersetzungen. So attestiert der Autor den Deutschen wegen der frühen Anerkennung von Slowenien und Kroatien eine Mitschuld an den folgenden Balkan-Kriegen. Immerhin folgt der bereits erwähnten Beteiligung am Angriff auf Serbien die standhafte Weigerung, gemeinsam mit der amerikanisch geführten Koalition der Willigen den Irak zu erobern.

Breiten - oft zu breiten - Raum nehmen bei Wolfrum immer die europäischen Entwicklungen ein. Er schildert die wirtschaftliche Entwicklung nach der Wiedervereinigung, einschließlich der Rolle der Treuhandanstalt. Weltfinanzkrise, Euro, Neuer Markt bei den Aktien - jeweils steht die deutsche Rolle in Europa sehr im Blickpunkt.

Mehr als 90 Prozent der Flüchtlinge betraten in Italien oder Griechenland europäischen Boden. Beide Länder fühlten sich mit ihren Problemen allein gelassen. Doch das, was in den kommenden zwei Jahren seit 2015 infolge des verheerenden Bürgerkrieges in Syrien auf die Europäer und die Deutschen zukam, stellte alles in den Schatten und setzte Europa seiner bisher dramatischsten inneren Zerreißprobe aus.

Die deutsche Sonderrolle steht aber vor allem im Blickpunkt, als es um die sogenannte Flüchtlingswelle nach 2015 geht. Der deutsche Sonderweg in Europa ist hier offensichtlich besonders stark ausgeprägt, was laut Wolfrum zu entsprechenden politischen Verwerfungen in der Europäischen Union führt, die teilweise bis heute anhalten. Vor allem die Flüchtlinge aus Syrien werden in Deutschland besonders behandelt. Die deutsche Kanzlerin will damit Zeit gewinnen für eine gesamteuropäische Lösung - ist damit aber bis in die Gegenwart gescheitert.

Wolfrum widmet sich in weiteren Kapiteln der Zukunft des Planeten, dem komplizierten Kontinent Europa und Big Data. Es geht um globale Probleme, Europas Rolle dabei, und irgendwie auch wieder um Deutschland - zuweilen allerdings erst in zweiter Linie. Das Buch ist flüssig zu lesen, der Autor hat einen Berg an Fakten zusammengetragen, geordnet und thematisch abgearbeitet. Wissenschaftlich eine saubere Arbeit, schriftstellerisch zuweilen leicht am Thema vorbei.

Fazit:

Edgar Wolfrum hat hier ein lesenswertes Buch vorgelegt - auch wenn er teilweise am Thema vorbei schreibt. Zweifellos ist Deutschland in Europa eingebettet, vieles an der deutschen Geschichte und Politik ist ohne die Europäische Union und ihre Entwicklung nur schwer erklärbar. Dennoch hat der Autor für meinen Geschmack zu oft Europa im Fokus, um dann doch noch auf Deutschland zu kommen. Da hätte die deutsche Geschichte zuweilen mehr im Vordergrund stehen sollen, ohne Europa zu vernachlässigen. Dennoch ein wichtiges und erkenntnisreiches Buch, an dem zeitgeschichtlich interessierte Leser viel Freude haben werden.

Der Aufsteiger

Edgar Wolfrum, Klett-Cotta

Der Aufsteiger

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