Blick zurück auf einen längst vernetzten Globus
1000 - Datum mit Signalwirkung
Der Blick in die Vergangenheit ist für die meisten Jetzt-Menschen eine Rückschau in ‚primitive‘ Zeiten, die wir glücklicherweise hinter uns gelassen haben. Solcher Hochmut ist fehl am Platz, denn die meisten (bzw. einige) Menschen waren früher keineswegs dümmer als heute. Das Fehlen inzwischen für das Alltagsleben unentbehrlicher Hightech stellte nie ein Hindernis für wagemutige Zeitgenossen dar, die ihre Welt energisch, (neu-) gierig sowie ungeachtet der dabei auf der Strecke bleibenden Pechvögel bereisten und dabei die Grenzen des Bekannten weiter vorschoben.
Auch was als „Globalisierung“ bezeichnet wird, ist keineswegs ein singulärer Quantensprung, sondern hat sich in der Menschheitsgeschichte bereits mehrfach ereignet. Zeitenwenden sind eher zufällige Begleiterscheinungen; dies gilt erst recht, wenn man bedenkt, dass Kalender keineswegs weltweit galten. Deshalb war der 1. Januar 1000 kein Datum, das überall für Aufsehen sorgte, weil man es als solches weder kannte noch feierte.
Kurioserweise lagen die Länder, in denen man dieses erste Millennium voller Erwartung (bzw. Gottesfurcht) erwartete, abseits jener Sphäre, in der sich in der Rückschau weltgeschichtlich Wichtiges ereignete; dies ist jedenfalls die Ansicht der US-Historikerin Valerie Hansen, die zwar das Jahr 1000 als Locksignal in den Titel ihrer Darstellung setzt, um dies im Text vorsichtig zu relativieren: Zwar steht eine Globalisierung für sie fest, doch verknüpft sie diese eher lose mit dem Datum, zumal es relevante Vorab-Entwicklungen gibt, denen Hansen in die Vergangenheit folgt - dort jedenfalls, wo es möglich ist, denn die Beschäftigung mit der Gesamt-Welt vor tausend Jahren erfordert den Mut zur Lücke sowie eine Recherche, die Quellen und wissenschaftliche Erkenntnisse aus zahlreichen Ländern berücksichtigt. Die Autorin holt bemerkenswert weit aus. Europa wird dabei keineswegs ausgeklammert, doch gerade der Blick über diesen sattsam bekannten Tellerrand ist definitiv ein Bonus.
Die Musik spielt nicht nur in Europa
Hansen präsentiert uns eine Welt, in der die Europäer in Sachen Globalisierung mit Ausnahme skandinavischer Eroberer (Kapitel 2: „Auf nach Westen, junger Wikinger“) buchstäblich eine Nebenrolle spielen. Sie stellt Chinesen, Inder und Araber, indigene Afrikaner, Nord-, Mittel- und Südamerikaner sowie kühne Seefahrervölker des Pazifiks und Indischen Ozeans in den Mittelpunkt einer Darstellung, die Politik und Religion als treibende Kräfte niemals negiert, diese aber vor allem ökonomischen Interessen unterordnet sieht.
Der Mensch wird demnach weniger zum Entdecker, weil ihn akademische Neugier plagt. Stattdessen sind seine Gründe handfester. Lebensraum und Güter locken, die man entweder erobern oder mit denen man Handel treiben kann. Wenn uns Hansen in Kapitel 1 ihres Werkes „Die Welt im Jahr 1000“ vorstellt, existiert bereits ein Netz alter, eifrig genutzter Straßen und Strecken (vgl. Kapitel 3: „Die panamerikanischen Highways um das Jahr 1000“), über die man sich langsam, aber regelmäßig über gewaltige Entfernungen bewegt, „wodurch Waren, Menschen, Mikroben und Ideen in neue Gebiete wanderten“ (S. 13).
Wenn Menschen sich auf diese Wege machten, waren nicht nur Soldatenheere, Reisende oder Händler gemeint, sondern (s. Kapitel 4) auch Sklaven, die als ‚Ware‘ um 1000 unverzichtbar waren und ganz selbstverständlich ‚gefangen‘, verschleppt, verkauft und ‚verwendet‘ wurden. Die Sklaverei besaß zahlreiche, zum Teil überraschende Facetten, die Hansen hervorhebt, ohne dabei den Zeigefinger zu heben: Moral und Ethik der Gegenwart haben in der Welt des Jahres 1000 keine Berechtigung, so schwer dies für eingleisig denkende Gutmenschen begreiflich sein mag.
Heute Exotik, damals Alltag
Bevor die Europäer ab 1500 mit der Unterstützung von Feuerwaffen (und Krankheiten) ‚ihre‘ Globalisierung in Gang setzten und das Ausland in „Kolonien“ verwandelten, waren die so besetzten und ausgebeuteten Kontinente und Länder keineswegs menschenleere Wildnisse. In Kapitel 5 („Der reichste Mann der Welt“) informiert Hansen über ein Afrika, dessen Nationen kulturell und machtpolitisch mit den zeitgenössischen Weltmächten mithalten konnten, weshalb deren Händler nicht als Herren, sondern vorsichtshalber als Partner auftraten. Kapitel 7 („Ungewöhnliche Reisen“) bezieht den südostasiatischen Raum und längst vergessene Staaten wie Kambodscha und Vietnam sowie meist kurzlebige Inselreiche ein, deren Transportwege ebenfalls erstaunlich lange fortlebten.
Natürlich ging es in diesem Netzwerk nie friedlich zu. Dies verhinderten seine schiere Größe und vor allem selbsternannte oder nachträglich gefeierte ‚Führergestalten‘, die nicht nur ein größeres Stück, sondern am liebsten den gesamten Kuchen an sich bringen wollten. Immer wieder (und so anschaulich wie z. B. in Kapitel 6: „Die Spaltung Zentralasiens“) erzählt Hansen von Gewalt und Willkür, wobei das „Netz“ stabil genug war, um Kriege, Massaker und Massenversklavungen zu überstehen. Ein besonders geplagter Ort war China (Kapitel 8: „Der am meisten globalisierte Ort der Welt“), wobei dessen Herrscher und Händler allerdings das Netz über viele Jahrhunderte wie eine Harfe spielten: Es gibt seit jeher Gewinner und Verlierer - und die Rollen können schnell wechseln!
Hansen schließt ihre Darstellung mit einem Blick auf die Jahrhunderte nach 1000 und beschreibt, wie sich das Netz veränderte und entwickelte, ohne sich jemals aufzulösen. Selbst in der Gegenwart existiert es, passt sich weiterhin den Zeitläufen an und zeigt eine Stabilität, die man nun besser versteht, denn man hat ein Buch gelesen, das gut unterhält und informiert. Hansen fasst zusammen, vereinfacht, verdeutlicht. Daraus macht sie keinen Hehl, denn sie legt kein Fach-, sondern ein Sachbuch vor, das ein möglichst breites Publikum finden soll. Die Autorin schreibt über ein komplexes Thema in allgemein verständlichen Worten, was eine echte Gabe ist. Selbst die Fußnoten sind lesenswert. Die Qualität des anschaulichen Textes zeigt sich zu guter Letzt darin, dass man auf die ohnehin sparsame Bebilderung gänzlich hätte verzichten können. Hansen streut Anekdoten ein und bleibt trotzdem unter 400 Seiten: Nicht grundlos gibt es jenes Sprichwort, nach dem die Würze in der Kürze liegt!
Fazit:
Das Jahr 1000 im Titel soll Aufmerksamkeit auf dieses Buch lenken, das die Welt in gewisser Weise auf den Kopf stellt: Geschildert wird ein vor allem außerhalb Europas vernetzter Globus, was einen langsamen, aber sicheren Austausch von Ideen und Waren ermöglicht. Ungeachtet einer wahren Detailflut behält die Autorin das Ruder/die Feder fest in der Hand und verschmilzt faszinierende Fakten zu einem flüssig geschriebenen (und übersetzten) Text.
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