Das Geheimnis der körperlosen Füße
- National Geographic Deutschland
- Erschienen: Oktober 2020
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Nicht ekelhaft, sondern interessant
In fünf Kapiteln beschäftigt sich die Autorin mit den unangenehmen Seiten des Lebens, die nichtsdestotrotz wichtig sind und interessant sein können:
- Morbide Neugier: Warum ist der Mensch gleichermaßen fasziniert wie abgestoßen, wenn ihm (und ihr) die Möglichkeit geboten wird, dorthin zu gehen oder wenigstens zu blicken, wo man normalerweise ausgeschlossen ist - beispielsweise in eine Leichenhalle, wo gerade ein Körper seziert wird? Wieso tauchen immer wieder Fragen auf, deren Antworten nur scheinbar niemand wissen will? (Wird mich mein Haustier fressen, wenn ich in meiner Wohnung tot umfalle?)
- Gebrochene Tabus: Faktisch ist manches quasi ‚automatisch‘ verboten und nicht diskussionswürdig (Kannibalismus, die Transplantation eines menschlichen Schädels). Doch die Historie zeigt, dass Tabus gesellschaftsabhängig sowie wandelbar sind und verschwinden können, wenn die Ablehnung sich mehrheitlich legt.
- Schaurige Tierchen: Niemand mag Ratten, Kakerlaken oder Parasiten. Selbst unter Wissenschaftlern hält sich der Forschungsdrang in Grenzen, obwohl gerade das Wissen über Tiere, die man sich und seinem Heim möglichst fernhalten will, von großer Bedeutung ist.
- Unfeine Anatomie: Der menschliche Körper ist zwischen Fußsohlen und Scheitel ein Quellbecken für Flüssigkeiten, die abgesondert oder ausgeschieden werden. Meist wird darüber außerhalb medizinischer Notfälle nicht gesprochen, weshalb sich windigen Geschäftemachern ein fruchtbares Betätigungsfeld bietet (Entgiften, Wundenlecken, Aderlass).
- Geheimnisvoller Geist: Unsere Umwelt nehmen wir Menschen gefiltert über unser Hirn wahr. Doch dieses Organ steckt voller manchmal böser Überraschungen. Krankheiten lassen gruselige Schweinwelten völlig real wirken. Manchem Hirn fehlen ‚Sicherungen‘, die den Menschen vor kriminellem Tun zurückschrecken lassen. Zudem neigt das Hirn zu übergroßer Vorsicht, weshalb besonders Clowns schnell verdächtig wirken.
Schönheit der Schattenseiten
In einem Vorwort erläutert Erika Engelhaupt, dass sie sich schon in ihrer Kindheit für Dinge interessierte, über die offiziell so wenig wie möglich und am besten gar nicht gesprochen wird. Im Laufe der Jahre hat sie sich diesbezüglich informiert, weshalb aus ihrem Steckenpferd längst ein Blog namens „Gory Details“ geworden ist - „ein guter Ort eben, um auch ekligen Fragen nachzugehen …“
Der Erfolg gab und gibt ihr Recht. Ihren Blog führt sie seit vielen Jahren. Sie füttert ihn längst hauptberuflich mit Inhalten, denn Engelhaupt ist Wissenschaftsredakteurin für die Website von „National Geographic“ und dort zuständig für abscheuerregende Themen, die von den Kollegen umgehend an sie durchgereicht werden.
Engelhaupt bricht beredt eine Lanze für die ekligen Details, um die sich nur wenige abenteuerlustige Spezialisten kümmern. Zwar sind einige Aspekte in erster Linie interessant, doch auch hier kann der Zuwachs von Wissen für unerwartete Anschlusserkenntnisse sorgen. So hat man dem Ohrenschmalz lange kaum Beachtung geschenkt. Nun weiß man, dass es Eigenschaften besitzt, die eine wesentlich effizientere Schmierung von Maschinen ermöglichen könnten, und arbeitet deshalb an künstlichem Ohrenschmalz. Ebenso fußt das Design moderner Mini-Roboter, die jedes Hindernis überwinden, auf dem Wissen über die verhasste, aber unverwüstliche Kakerlake.
Nicht abschrecken lassen!
Für ihren Blog kontaktiert Engelhaupt zahlreiche Spezialisten mit ‚zweifelhaften‘ Interessen. Sie ist gut vernetzt in dieser Szene und weiß deshalb um die Vorteile des Blicks über den (schmutzigen) Tellerrand. Der Titel spielt auf ein Geschehen an, das in den frühen 2000er Jahren für Aufsehen sorgte: An bestimmten nordamerikanischen Stränden wurden Menschenfüße angeschwemmt, die in Turnschuhen steckten. Polizei und Medien dachten an massenhaften Migrantenmord, doch Fachleute für Verwesung im Wasser und Experten für Meeresströmungen konnten das Geheimnis lüften. Den Mordmythos ersetzten sie durch harte Fakten und sorgten dafür, dass sich die Küstenbewohner beruhigten.
Für dieses Buch hat Engelhaupt nicht nur auf bereits veröffentlichte Bloginhalte zurückgegriffen - die sie ergänzte und aktualisierte -, sondern auch diverse Neutexte verfasst. In fünf Kapiteln gibt sie einen Überblick, wobei schnell auffällt, dass hier nicht das spektakulär Schlüpfrige im Vordergrund steht. Engelhaupt widmet sich nicht ohne Witz (und persönliche Anekdoten), aber sachlich ihren Themen. Sie ordnet das Kuriose dabei in einen größeren Zusammenhang ein, wodurch sich manche Seltsamkeit plötzlich harmonisch ins Weltbild fügt.
Die Recherchen sind oft hart. Dieses Buch wird nicht durch Fotos illustriert. Das Internet liefert problemlos Entsprechendes für Hardliner. Zudem hat Engelhaupt diverse Websites angegeben, wenn man (sich in) das eine oder andere Thema vertiefen möchte. Die Autorin muss für ihre Blogbeiträge indes grässliche Bilder von Unfällen, Krankheiten oder Missbildungen sichten. Wenn es möglich ist, taucht sie auch persönlich dort auf, wie es unheimlich ist oder riecht. Für ihren Wagemut ist man ihr dankbar und folgt ihren Ausführungen mit einer Neugier, die nicht unangemessen, sondern sogar hilfreich ist: Wie Forscher herausgefunden haben, wappnet sich das Hirn ‚auf Vorrat‘ gegen gefährliche Situationen. Da kann das Wissen darum, von welchen Insekten man sich auf keinen Fall stechen lassen sollte, durchaus hilfreich sein!
Fazit
Gar nicht widerwärtiger Blick auf Dinge, über die ‚man‘ nicht spricht, aber sprechen sollte, weil Wissen auch und gerade in diesen Bereichen für positive und in ihrer Reichweite unerwartete Erkenntnisse sorgen kann. Offen bleibt die Frage, wieso die deutsche Ausgabe gekürzt ist und welche Textpassagen dies betrifft.
Erika Engelhaupt, National Geographic Deutschland
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