Das Duell
- Kiepenheuer&Witsch
- Erschienen: September 2019
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Kampf zweier Giganten des Literaturbetriebs
Wenige Personen haben die deutsche Literatur nach 1945 nur annähernd so bestimmt wie Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki. Beruf und Berufung – Schriftsteller und Künstler, der eine, Kritiker, der andere - brachten es mit sich, dass sie das von unterschiedlichen Positionen taten. Ihre Sicht auf die Literatur war von Polarität geprägt, ebenso wie ihr Verhältnis zueinander. Eine Beziehung, die jahrzehntelang andauerte, weit über das natürliche Maß beruflicher Bekanntschaft hinausging und dabei Phasen erbitterter Feindschaft genauso erlebte wie Zeiten freundschaftlicher Zuneigung.
„Es gibt Ehen, die werden auf keinem Standesamt besiegelt und auch von keinem Scheidungsrichter getrennt. Ich werde ihn nicht los, er wird mich nicht los.“
Als Günter Grass diese Einschätzung 1977 äußerte, bestand die untrennbare Verbindung der beiden Größen der deutschen Nachkriegsliteratur schon knapp zwanzig Jahre und es sollten noch mehr als dreißig Jahre folgen, bis erst der Tod Marcel Reich-Ranickis 2013 ihre Zwangsehe schied.
Zwei kleine Peer Gynts, ein Fluss und viele Bücher
Die Leidenschaft für die Literatur, eine Gemeinsamkeit und der Anlass für ihr späteres Aufeinandertreffen, wurde bei beiden schon in früher Kindheit geweckt.. Marcel Reich kommt im polnischen Wloclawek 1920 zur Welt, Günter Grass 1927 in der Freien Stadt Danzig. Das Leben an und mit Weichsel bleibt ihnen zeitlebens in Erinnerung. Die Verhältnisse der Familien sind kleinbürgerlich. Das jüdische Elternhaus von Reich nicht sehr religiös. Wie es der Zufall will, haben die Mütter beide den Vornamen Helene und lieben Bücher. Sie erhoffen sich für ihre Söhne eine bessere Zukunft als die kaufmännischen Existenzen ihrer lebens- und geschäftsuntüchtigen Ehemännern.
Familie Reich zieht 1929 nach Berlin. Als Fremder versucht sich Marcel, Zugehörigkeit durch Anerkennung seiner schulischen Leistung zu erkämpfen, lernt fleißig. Vor allem aber liest und liest er und findet dabei eine Heimat in der deutschen Sprache und Literatur. Ein Zufluchtsort, der ihm auch dann noch bleibt, als sich die verändernde politische Situation zunehmend bemerkbar macht und er 1938, als polnischer Jude des deutschen Reiches verwiesen und nach Polen abgeschoben wird.
Auch Günther im Danziger Vorort Langfuhr versinkt in der Welt der Bücher, liest sich raus aus der Enge des Alltags, interessiert sich zudem für Malerei. Bis auf die Fächer Deutsch und Kunst ist er kein besonders guter Schüler und wird durch die Kriegsjahre ohne Schulabschluss bleiben. Die sich ausbreitende Macht der Nationalsozialisten begleitet er ohne Bedenken mit enthusiastischer Begeisterung als Mitglied des Jungvolks.
Kriegsjahre und neue Orientierung
Beide sehen den Kriegsbeginn im September 1939 voller Hoffnung, Marcel Reich, weil er mit einer schnellen Niederlage der Nazis rechnet, Günther Grass, weil er Hitlerdeutschland auf dem Vormarsch wähnt. Was folgt sind stattdessen lange, lebensbedrohliche Kriegsjahre, die sie an feindlichen Fronten überstehen. Reich entgeht dem Warschauer Ghetto und der Deportation und überlebt in einem Kellerversteck. Grass meldet sich freiwillig zur Wehrmacht, wird dann zur Waffen-SS eingezogen und kommt bei Kriegsende in amerikanische Kriegsgefangenschaft.
Nach 1945 gilt es das Leben mit der wiedererlangten Freiheit neu zu organisieren. Reich wird Mitglied der kommunistischen Partei und macht Karriere, vertritt Polen – er nennt sich nun Marcel Ranicki- als Konsul in London und arbeitet für den Geheimdienst, bis er selbst in Ungnade fällt und entlassen wird. Darauf beginnt seine Tätigkeit als freier Lektor und Autor. Grass entscheidet sich für ein Studium der Grafik und Bildhauerei, parallel dazu erscheinen erste Gedichte. Er zieht nach Paris und beginnt, an seinem Erstlingsroman „Die Blechtrommel“ zu schreiben.
Fixpunkte des literarischen Lebens
1958 ist es dann soweit. Während einer Recherchereise von Günter Grass kommt es in Warschau zu einem ersten Treffen mit Marcel Ranicki. Von der „Geschichte des Kennenlernens“ gibt es später zwei Versionen. In einem sind sich der angehende Schriftsteller und der freiberufliche Kritiker jedoch einig, was für einen langweiligen Nachmittag sie an diesem Tag miteinander verbracht haben.
Trotzdem werden sie sich bald wiedersehen, denn schon kurze Zeit später siedelt Ranicki nach Westdeutschland über. Unter dem neuen Doppelnamen Reich-Ranicki schreibt er zunächst jahrelang als freier Mitarbeiter für die „FAZ“ und „Die Zeit“, bis er 1973 die Leitung der Literaturredaktion der „FAZ“ übernimmt. Ende der achtziger Jahre wird er einem breiten Publikum durch die ZDF-Sendung „Das literarische Quartett“ bekannt. Grass gelingt 1959 mit „Der Blechtrommel“ der literarische Durchbruch. Er veröffentlicht in den folgenden Jahren kontinuierlich neue Werke, die ihn zu einem anerkannten, wenngleich auch kontrovers diskutierten Schriftsteller machen, der sich als Wahlkampfhelfer von Willy Brandt, auch tagespolitisch zu Wort meldet. In der Konstellation Autor und Kritiker stehen sich Grass und Reich-Ranicki im literarischen Leben somit über lange Jahre unausweichlich gegenüber und erreichen als Nobelpreisträger und „Literaturpapst“ jeweils im eigenen Metier höchste Auszeichnung und Anerkennung.
Detailreich, emphatisch und klug
Autor Volker Weidermann erzählt in seinem Buch die Geschichte dieser seltsamen Partnerschaft in all ihren Facetten. Gut recherchiert und einfühlsam skizziert, ist der Band nicht nur eine Beziehungsstudie, sondern gleichzeitig auch eine Doppelbiografie der Kontrahenten und ein authentisches Zeitporträt. Seine detailreichen Schilderungen ermöglichen den persönlichen Werdegang der „Protagonisten“- familiär und beruflich - mitzuverfolgen und machen auch die Auswirkungen der biografischen Erlebnisse auf zukünftiges Denken und Handeln verständlich, spüren Lebensthemen wie Zugehörigkeit und Zweifel, Schuld und Schweigen nach.
Vor allem gibt Weidermann aufschlussreich Einblick in das Schaffensfeld von Grass und Reich-Ranicki und auf ihre Vorstellung davon, was Literatur und Kritik leisten sollen. Die Auflistung der Veröffentlichungen und Rezensionen wird dabei zu einer Werkschau der Grass Texte und zeigt Reich-Ranickis Arbeitsweise; berücksichtigt auch dessen vorübergehenden Wechsel auf die Seite der Autoren sowie den damit verbundenen Erfolg seiner Autobiografie „Mein Leben“.
Natürlich werden auch alle Momente ihrer so wechselhaften Beziehung eingefangen. Auf dem Papier Verriss, Lobgesang und offene Briefe, medialer Schlagabtausch generell, öffentliche Begegnungen bei Veranstaltungen oder Lesungen, ebenso wie die ganz private Einladung zum Essen. So nimmt man Anteil an diesem Verhältnis im Wandel, einer Feind-Freundschaft, die bitterböse Funkstille genauso kennt, wie Gesten der Aufmerksamkeit und beiderseitigen Wunsch nach Aussöhnung etwa bei ihrem letzten Treffen 2003 in Lübeck. Spannend wird es, wenn Realität und Fiktion ineinander übergehen und Grass beispielsweise Reich-Ranickis Kriegserlebnisse für sein Schreiben verwendet. Eingebettet ist diese Zweierbeziehung in das literarische Leben im Land, besonders die Zugehörigkeit von Grass und Reich-Ranicki zur legendären Gruppe 47 wird hier beachtet.
Die Aufzeichnung intimer Erlebnisse geschieht neutral und ohne moralische Bewertung. Das macht sich besonders positiv bemerkbar bei Geschehnissen, die Gegenstand öffentlicher Debatte waren, wie Grass' späte Offenlegung seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS und das Erscheinen seines umstrittenen Israel-Gedichts oder das Bekanntwerden der Geheimdiensttätigkeit von Reich-Ranicki.
Fazit:
Eine gute Geschichte, die Volker Weidermann informativ und spannend präsentiert. Beim Duell von Autor Grass und Kritiker Reich-Ranicki macht er sich nicht zu einem Sekundanten eines der Gegner und lässt seinen Lesern somit Raum für eine eigene Abwägung bei der Entdeckung eines spannenden Kapitels deutscher Nachkriegsliteraturgeschichte.
Da Weidermann, als Nachfolger Reich-Ranickis, seine Rolle als Gastgeber des „literarischen Quartetts“ unlängst abgegeben hat, nun mehr Zeit für das eigene Schreiben nutzen kann, lässt das auf weitere vergleichsweise gescheite Lektüre hoffen. Bis dahin klappt man dieses Buch zu und dabei bleiben erfreulicherweise keine Fragen offen.
Volker Weidermann, Kiepenheuer&Witsch
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