Ein gelungener Anstoß zu einer wichtigen Debatte
Es ist der vielleicht aktuell im Bereich der Kunst und Literatur am meisten diskutierte Begriff: „Cancel Culture“. In den letzten Jahren häufen sich immer mehr die Debatten über Bücher und Autor*innen, die zuweilen aggressiv und zunehmend unsachlich ausgetragen werden. Es ist ein regelrechter Streit darum entstanden, was Literatur soll und darf. Immer mehr Autor*innen werden von den Verlagen „Sensitivity Readers“ zur Seite gestellt, die dafür sorgen, dass Texte „regelkonform“ sind. Nur wer stellt diese Regeln auf? Kann man ernsthaft in die literarische Arbeit eingreifen wollen? Oder ist dies sogar notwendig? Ist es noch in Ordnung, Werke von Karl May, Enid Blyton oder Agatha Christie zu lesen, obwohl deren Bücher voller längst überholter ethnischer, rassistischer oder sexistischer Stereotypen sind, wie deren Kritiker anmerken? Müssen Begriffe gestrichen werden, die heute als rassistisch gelten oder muss man die Werke immer als „Kind seiner Zeit“ lesen? Und dürfen Werke nur noch von Personen übersetzt werden, die den identitären Vorstellungen der Autor*innen und ihrer Persönlichkeit entsprechen?
Diesen Fragen gehen in der vorliegenden Anthologie die Autor*innen aus dem Bereich des Journalismus, der Literaturwissenschaft und -kritik, der Soziologie, der Philosophie und Philologie mit grundverschiedenen Ansätzen und aus den verschiedensten Blickwinkeln nach. Ein Sammelband, der einen Anschub geben soll, die eigene Haltung zu hinterfragen und sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen und diese auch zuzulassen. Die Cancel-Culture-Debatte ist die verzweifelte Suche nach dem Richtigen und der einzig gültigen Wahrheit. Dies erscheint aber nur dann sinnvoll, wenn man sich auf andere Argumente und Sichtweisen einlässt. Denn schon Gotthold E. Lessing wusste: Sobald eine Wahrheit ausgesprochen wird, ist sie bereits wieder eine Meinung von vielen.
Was ist Cancel Culture eigentlich?
Der Begriff „Cancel Culture“ stammt aus dem englischen Sprachraum und wurde vermutlich Mitte der 2010er Jahre zuerst von schwarzen Twitter-Usern benutzt, die problematisches Verhalten von Prominenten kritisierten und vor allem forderten, dass deren (Fehl-)Verhalten nicht länger toleriert werden sollte. Mittlerweile bezeichnet er den Versuch, ein vermeintliches Fehlverhalten, beleidigende oder diskriminierende Aussagen oder Handlungen öffentlich zu ächten. Es wird zu einem generellen Boykott dieser Personen aufgerufen. Seit einigen Jahren ist dies auch ein viel diskutiertes Thema im Bereich der Literatur. Anders als etwas bei George Orwells „1984“ meint Cancel Culture aber keine staatliche Zensur, sondern laut des kulturpolitischen Korrespondenten der ZEIT, Ijoma Mangold, eine „Zensur von unten“. Es gehe nicht um „hierarchische, sondern um dezentrale Macht“. Dabei werden vor allem Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, Sexismus, Rassismus und Homophobie thematisiert. Verkürzt gesagt stehen sich zwei Lager gegenüber, die zum Teil völlig diametrale Vorstellungen davon haben, was Literatur darf und was nicht. Während die eine Gruppe, die Seite der „Woken“, Literatur auf einem Irrweg sehen und Werke sowie deren Autor*innen boykottieren und canceln, sehen die anderen, die Seite der „Bewahrer*innen“, die Meinungsfreiheit, insbesondere die Freiheit der Literatur gefährdet. Es herrscht eine aufgeheizte moralische Stimmung, die durch extreme Positionen und Schwarz-Weiß-Malerei weiter befeuert wird.
Unterschiedliche Blickwinkel
Den Herausgeber*innen der Anthologie gelingt es, ein breites Spektrum an Positionen in unterschiedlichen Bereichen der Literatur von Klassikern, über Kinder- und Jugendliteratur bis zu Problemen der Übersetzungstätigkeit und dem Ausschluss von Autor*innen abzudecken. Dabei ist es richtig, dass die Autor*innen freie Hand bei ihren Texten bekamen, ohne zu fürchten, gecandelt zu werden.
Einige Blickwinkel, wie die auf die Kinder- und Jugendliteratur, mögen auf den ersten Blick nicht neu erscheinen. Dabei laden insbesondere die Texte der Autorinnen Asal Dardan („Deutsche Kindheiten: Über Michael Ende und sein erstes Kinderbuch Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“) und Mithu Sanyal („Enid Blyton, oder: Gibt es ein richtiges im Falschen“) zu einer differenzierten, kritischen Auseinandersetzung mit dem Thema ein, inwieweit Texte verändert und Autor*innen gar gänzlich boykottiert werden müssen.
Besonders lohnenswert ist Daniela Stringls Text „Ein jeder übersetzt nur noch sich selbst? Die Debatte um die Übersetzungen Amanda Gormans Gedicht The Hill We Climb“. Am Beispiel der 22-jährigen schwarzen Dichterin stellt die österreichische Literaturwissenschaftlerin, Kritikerin und Esayistin Strigl die Frage, wie weit „identitäre Übersetzungslogik“ gehen dürfe. Können - wie im Fall der Amerikanerin - Texte von jungen, schwarzen Aktivistinnen nur von eben solchen übersetzt werden? Spielt demnach die Identität, ethnische Herkunft und Sexualität bei der Auswahl der Übersetzer*innen nicht nur eine größere, sondern die entscheidende Rolle? Was ist mit sprachlichem Vermögen bzw. Können und literarischer Qualität? Oder mit anderen Worten: Muss die*der Übersetzer*in ein Abziehbild des*r Verfasser*in sein?
Schwarz-weiß oder doch Grautöne?
Jürgen Knaub, Journalist, Soziologe und Mitherausgeber der FAZ, stellt unter Bezug auf Shakespears „Othello“ die wichtige Frage nach der Bedeutung des Theaters als ein notwendiges kritisches Organ: „Muss […] nicht doch auf der Bühne ausgesprochen werden, was im Alltag auszusprechen als Beleidigung und Missachtung aufgenommen würde? Wie anders sollte die Bühne das alltäglich Schlimme und […] sogar Böse darstellen? Müssen wir also nicht zwischen einem rassistischen Stück und einem Stück über Rassismus unterscheiden?“ Aber auch Knaub macht deutlich, dass eine Antwort auf dies Frage nicht leicht ist.
Wir leben in einer Gesellschaft, die sich im Umgang mit Mängeln sehr schwer tut, die nach Vollkommenheit strebt, die es aber nicht geben kann. Konrad Paul Liessmann, Professor der Philosophie der Universität Wien, geht sogar soweit zu behaupten, dass Cancel Culture der „Ausdruck eines kruden Essentialismus“ ist, „der es nicht zulassen kann, dass Dinge im Fluss sein können und Bedeutungen sich ändern“.
Fazit
Die Frage nach dem, was literarisch richtig und falsch ist, lässt sich nicht eindeutig klären, zumal sie schon immer zeitabhängig war. Wer will sich das moralische Recht zusprechen, dies entscheiden zu können? Literatur war, ist und muss immer streitbar sein, zum Diskurs einladen. Viele Debatten bewegen sich in einem Graubereich und können - zumindest heute - keine klaren Grenzen ziehen. Was viele in der kritischen Auseinandersetzung vergessen, ist die Notwendigkeit, nicht nur andere Meinungen zu tolerieren, sondern sie zu akzeptieren, um hierüber in einen notwendigen Dialog zu treten. Dafür bietet diese Anthologie eine gute Basis.
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