Braunes Erbe
- Kiepenheuer&Witsch
- Erschienen: Mai 2022
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Geld stinkt nicht (wenn man es erst einmal hat)
Flick, von Finck, Quandt, Porsche-Piëch, Oetker: Deutschland ist keine Monarchie mehr, aber setzt man „Adel“ mit „Kontostand“ gleich, füllen die Mitglieder der genannten Familien seit über einem Jahrhundert diese Lücke. Sie sind nicht einfach reich, sondern sitzen auf Milliarden, die sie dank (für sie) lukrativer Beteiligungen an Schlüsselindustrien weiterhin vermehren. Aus enormem Reichtum resultiert wiederum ein Einfluss, der deutlich weiter reicht als der Normalbürger es sich vorstellen kann.
Die deutsche Wirtschaft war und ist ihr Spielfeld, und ihre Vermögen katapultierten diese Familien dorthin, wo nicht nur die Medien, sondern auch die Politik sie hofierte. Wer über Branchen herrscht, deren Umsätze manche Staatsbudgets übertreffen, erwartet geradezu, dass sich Regierungen nach seinen ‚Wünschen‘ richten. Da erfolgreiche Unternehmer zudem lebenslang im Sattel sitzen, sehen sie Politiker kommen und gehen, während sie bleiben.
Zu den genannten Familien gesellten sich später die Reimanns, die jedoch das Rampenlicht mieden. Sie gehörten einer Generation an, die gelernt hatte, dass die Todsünden der Vergangenheit sich nicht für immer unter den Tisch kehren ließen. Lange hatten die Superreichen Deutschlands vertuschen können, dass sie auf dem Weg ganz nach oben buchstäblich über Leichen gegangen waren. Vor allem während des „Dritten Reiches“ eigneten sich die Wirtschaftsführer skrupellos die Unternehmen jüdischer Konkurrenten an, die vom Regime systematisch ausgegrenzt, verfolgt und enteignet wurden. Für ein Butterbrot rissen ohnehin schwerreiche Männer „arisierte“ Firmen und Banken an sich und verschmähten auch ‚besitzfrei‘ gewordenen Grundbesitz, Immobilien oder Kunstschätze nicht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erklärten sich die endlos Gierigen für unschuldig, gaben Regimeferne vor, obwohl sie oft hohe Nazi- und SS-Ämter innegehabt hatten. Vor allem leugneten sie sämtlich die erbarmungslose Ausbeutung von Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen, die in den letzten Kriegsjahren für kriegswichtige Industrien versklavt wurden. Männer und Frauen starben gequält, unterernährt, medizinisch unversorgt und miserabel untergebracht wie die Fliegen - ein Kapitel, das in den Chroniken besagter Firmen besonders sorgfältig ausgespart blieb.
Der Stöpsel bleibt nicht in der Flasche
Spätestens in den 1980er Jahren funktionierte die Schönfärberei nicht mehr. Während die genannten Unternehmerdynastien zudem zerfielen und ihre Mitglieder (scheinbar) aus der vorderen Wirtschaftsfront ausscherten, drangen kritische Fragen nach einer braunen Vergangenheit tiefer. Außerdem begannen die Überlebenden der Sklavenwirtschaft von sich hören zu lassen.
Lange setzten die betroffenen Unternehmen auf Schweigen und Leugnung. Als dies nicht mehr funktionierte, heuerten sie Historiker an, um die Familiengeschichte so glattzupolieren, dass Fakten und Wunschbild der Auftraggeber in etwa übereinstimmten. Die (Boulevard-) Medien konzentrierten sich ohnehin lieber auf die glänzende Oberfläche, thematisierten Ehe-‚Skandale‘ oder ‚berichteten‘ über die Party-Exzesse gar zu lebenslustiger Familienmitglieder.
Auch dies konnte - und durfte - nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Obwohl die Familien blockten und ihre Archive sperrten, blieben im aktenfreudigen Deutschland genug Quellen, die eine kritische Sicht auf schöngeredete Familiengeschichten ermöglichen. Dennoch wird weiterhin gemauert, weshalb ein Werk wie dieses, das sich den dunklen Kapiteln sechs deutscher Vorzeige-Unternehmen widmet, von besonderem Interesse ist; dies verdeutlicht auch die Zahl der Knüppel, die dem Verfasser seitens der betroffenen Familien zwischen die Beine geworfen wurden.
Verdienen als Verdienst
David de Jong begann 2012 mit ersten Recherchen zum Thema. Bis 2018 ergab sich daraus eine Reihe von Artikeln für die Zeitschrift „Bloomberg News“, in der über Unternehmen, Politik, Wirtschaft und Finanzen berichtet wird. Als de Jong immer mehr Fakten ausgrub, kündigte er seinen Job und begann dieses Buch zu schreiben. Für mehrere Jahre lebte er in Berlin, um den für ihn wichtigen Archiven näher zu sein.
Im Kapitel „Hinweise zu den Quellen“ beschreibt de Jong über viele Seiten, wie die von ihm ins Visier genommenen Familien fast ausnahmslos hinter ihren Mauern des Schweigens bzw. Leugnens verharrten und eine direkte Konfrontation mit Fragen vermieden, die nicht durch die Mühlen firmeneigener PR-Abteilungen gedreht und weichgespült wurden. Doch die Quellenspur durch die deutsche Geschichte ist einfach zu breit. Es blieben mehr als genug hässliche Wahrheiten, die de Jong in dieses von ihm „erzählendes Sachbuch“ genannte Werk einfließen lassen konnte. Damit stellt er sein Licht ein wenig unter den Scheffel, denn der Anmerkungsapparat verdeutlicht die immense Mühe, die er sich mit seiner Aufarbeitung gemacht hat (wobei er an einigen Stellen ein wenig zu sehr in ‚menschlich‘ interessanten, aber thematisch nebensächlichen Anekdoten schwelgt).
De Jong spannt den Bogen von einem ersten Treffen deutscher Schwerindustrieller mit Hitler am 20. Februar 1933, geht aber auch weiter zurück und schildert den Aufstieg von Männern, die in ihrer nie befriedigten Gier nach Macht und Geld der Moral keinen Platz einräumten. Nicht alle waren sie Nazis, aber sie arbeiteten mit dem und für das Regime, weil sie mehr Beute machen konnten als jemals zuvor, was dazu führte, dass die genannten Unternehmen nicht nur Nutznießer, sondern auch mitschuldig am organisierten Massenmord des NS-Regimes wurden.
Was wir haben, behalten wir
De Jong muss nicht dramatisch werden. Er lässt Fakten sprechen, die in diesem Zusammenhang selten oder nie zuvor Verwendung fanden. „Braunes Erbe“ reiht sich damit in eine Serie von Werken ein, die den lange behaupteten Schnitt zwischen NS-Reich und Bundesrepublik ad absurdum führen. Politiker, Juristen, Mediziner oder eben Unternehmer: Sie hatten nicht nur ihre Wurzeln in einem System mörderischen Unrechts, sondern blieben auch nach 1945 ihren Überzeugungen treu.
Die tief in NS-Verbrechen verstrickten Unternehmer ließen sich „Persilscheine“ ausstellen. Sie entkamen der Gerechtigkeit und standen bald wieder ihren Betrieben und Banken vor, die sie wie zuvor zielstrebig ausweiteten. Niemand hat sich jemals eindeutig zu den „Arisierungen“ und zur Zwangsarbeit geäußert. Entsprechende, allerdings eher lau und ausweichend gehaltene Äußerungen quälten sich erst die Enkel und Ur-Enkel ab, ohne mehrheitlich eine Pflicht daraus abzuleiten und etwa den noch lebenden Zwangsarbeitern eine Entschädigung (oder eine Entschuldigung) zukommen zu lassen.
„Braunes Erbe“ ist ungeachtet einer sehr angenehmen, auch komplexe Probleme verständnishaft formulierenden Sprache eine schwierige Lektüre: Die kollektive Leugnung unbestrittener Fakten trägt auch im 21. Jahrhundert weiterhin Früchte. David de Jong hat sorgfältig gearbeitet, aber was wird sein Werk ändern? Hinter hehren Fassaden bauen sich die meisten Nachfahren Familiengeschichten nach Belieben. Ihre Vermögen und der daraus resultierende Einfluss sind bzw. ist so groß, dass für sie weiterhin dieses Sprichwort gilt: Was kümmert’s den Mond, wenn ihn die Hunde anbellen?
Fazit:
Ebenso informatives wie deprimierend deutliches Sachbuch, das von niemals gesühnten Verbrechen ‚großer‘ Unternehmensfamilien berichtet, die erst systematisch begangen und anschließend ebenso systematisch geleugnet und vertuscht wurden: Geschichte wird zum Real-Krimi ohne gerechte Auflösung.
David de jong, Kiepenheuer&Witsch
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