Umfassender Überblick über eine häufig verkannte Parallelhistorie.
Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Doch nicht alle starten mit den gleichen Chancen. Wieso ist die Gruppe dieser Sieger derart homogen? Wieso sind Gebiete wie Kunst, Wissenschaft oder Literatur derartige Männerdomänen? Tatsächlich wurden vielfältige Errungenschaften des weiblichen Geschlechts, historisch betrachtet, systematisch ausgespart, kleingeredet oder unter den Teppich gekehrt. Und auch wenn wir uns heute fortschrittlich, emanzipiert und als sozial absolut gerecht empfinden, wirken diese alten Systeme doch noch häufig in die Institutionen von heute hinein. Warum und von wem dies perpetuiert wird, welche weitreichenden Konsequenzen dies hatte und hat und wie viele Frauen, deren Namen heute kaum noch jemand kennt, eigentlich Großes geleistet haben: Diesen und weiteren Fragen wird in diesem Buch nachgegangen …
„Die Heirat ist die einzige Karriere der Weiber. Die Männer haben sechsunddreißig Chancen, das Weib nur eine.“ – MARIE BASHKIRTSEFF
Leonie Schöler, Jahrgang 1993, arbeitet seit Ende ihres Studiums an der Humboldt-Universität zu Berlin als Historikern, Journalistin und Moderatorin. Neben zahlreichen veröffentlichten Artikeln zeichnen sich ihre Aktivitäten durch Geschichtsvermittlung auf Social-Media-Kanälen sowie zahlreiche Kooperationen, u.a. mit der Bildungsstätte Anne Frank, aus. Zudem wirkt sie bei verschiedenen „funk“-Formaten mit und produziert eigenes Videomaterial, so z.B. eine Dokureihe über die Wannsee-Konferenz für das ZDF. Mit Beklaute Frauen legt sie ihr erstes Buch vor – und bleibt damit ihrem bisherigen Schaffen thematisch treu.
„Mann, bist du imstande gerecht zu sein? Es ist eine Frau, die dir diese Frage stellt; dieses Recht wenigstens kannst du ihr nicht nehmen. Sage mir, wer hat dir die souveräne Macht verliehen, mein Geschlecht zu unterdrücken?“ – OLYMPE DE GOUGES
In insgesamt 6 Kapiteln, die jeweils nach übergeordneten Themenbereichen gegliedert sind, macht sich Schöler auf einen chronologischen Streifzug durch die Geschichte der Menschheit und sucht dabei nach Frauen, die entweder von einzelnen Männern oder den hinter diesen stehenden, sie stärkenden Strukturen übersehen, um ihre Freiheit gebracht oder gar ihrer Leistungen enteignet worden sind. Aus Platzgründen beginnt sie nicht ganz am Anfang, sondern in den bewegten Revolutionsjahren 1848/49, in welcher die Weltordnung, wie wir sie heute kennen, in die Wege geleitet wurde. Sie zeigt auf, wie dabei uralte Rollenvorstellungen anstatt kritisch hinterfragt einfach übernommen wurden, um das patriarchale Selbstverständnis zu rechtfertigen, wie die Erfindung der Ehe genutzt wurde, Frauen politische Teilhabe und individuelle Handlungsmacht zu verwehren, wieso Frauen sich häufig hinter als groß geltenden Männern oder gar männlichen Pseudonymen versteckten, um in gewissen Berufsfeldern ernstgenommen werden zu können, wieso Damen wie Rosalind Franklin und Lise Meitner keinen Nobelpreis haben, obwohl ihr Schaffen diesen durchaus verdient hätte, wie divers und konfliktbehaftet feministischer Widerstand aussehen kann und wie dessen Unterdrückung auch mit der anderer als Minderheiten definierter Gruppen verzahnt ist, sowie mit welchen perfiden rhetorischen (oder tatsächlichen) Mitteln und auf Grundlage welcher Prozesse Frauen ihre Leistungen immer wieder genommen, kleingeredet oder aufgrund ihres Geschlechts schlicht abgesprochen wurden.
„War nicht mein ganzes Leben ein Kampf um mehr Freiheit gewesen – um gesellschaftliche Bedingungen, unter denen jedes Individuum die Bedürfnisse empfinden und befriedigen kann, die uns erst zum Menschen machen?“ – TONI SENDER
Neben klarer, fundierter Recherche streut Schöler immer wieder Porträts einzelner Frauen ein und erzählt deren Geschichten, sowie auch von gemeinschaftlichen Bestrebungen und Bewegungen wie der Suffragetten. Die Schicksale und Errungenschaften der vorgestellten Frauen sind so vielfältig wie ihr Verhältnis zu den Männern in ihrem Leben oder den sozialen Gegebenheiten, innerhalb derer sie sich behaupten müssten. Dabei geht es der Autorin nicht um einen moralischen Fingerzeig, sondern darum, anhand von Fallbeispielen zu verdeutlichen, welche Auswirkungen derartige blinde Flecken haben und wie sich diese teils unverändert vorfinden lassen, z.B. in den Algorithmen modernster KI. Als positiv bewertet sie das Phänomen der „wiederentdeckten“ Frau: Vermehrt wissen Historiker*innen bislang verschwiegene, lächerlich gemachte oder unter den Tisch gefallene Momente alternativer Geschichte zu erzählen, um für auch heutzutage noch (häufig, aber nicht immer unbewusst) reproduzierte Vorgänge zu sensibilisieren, Licht auf diese blinden Flecken zu werfen und damit Perspektiven und Horizonte für eine mögliche Zukunft zu erweitern. Dies gelingt ihr in einer präzisen und angesichts der Materie überraschend humorvollen und persönlichen, wenn auch gelegentlich zu flapsigen und platten Sprache. Die eingewobenen Porträts würden sich in diesem Stil auch fürs Multimediaformat anbieten.
Fazit
Beklaute Frauen von Leonie Schöler ist kein hoch geschichtswissenschaftliches Sachbuch und wird aufgrund der erfreulichen Direktheit vermutlich nur eine Leserschaft erreichen, die in den berührten Themenfeldern sowieso bereits zumindest ein wenig bewandert ist. Ihre Hausaufgaben hat die Autorin dennoch gemacht – davon zeugt der äußerst umfangreiche Anhang mit einer Fülle an Anmerkungen und weiterführenden Literaturhinweisen. Trotz Mankos also eine hochinteressante und höchst unterhaltsame Übersicht über die „unsichtbaren Heldinnen der Geschichte“ sowie die Gründe und Implikationen ihrer „Unsichtbarmachung“!
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