Amundsens letzte Reise

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  • Erschienen: September 2021
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Amundsens letzte Reise
Amundsens letzte Reise
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Michael Drewniok
9101

Sachbuch-Couch Rezension vonOkt 2021

Wissen

Monica Kristensen unternimmt den Versuch, die Spuren auf der Basis bekannter und aktueller Erkenntnisse neu auszuwerten und zu deuten. Sie legt Wert auf die Feststellung, dass auch sie keine letzte Gewissheit geben kann. Die schlüssigsten Interpretationen werden sorgfältig begründet vorgelegt, wobei sich Kristensen mit Fachleuten beraten hat. Derzeit dürfte ihr Werk deshalb der Weisheit letzter Schluss zum Thema darstellen.

Ausstattung

Chronik einer überflüssigen Heldentat

Im Mai des Jahres 1928 steuert der Luftschiff-Pionier Umberto Nobile an Bord der „Italia“ den Nordpol an. Dieser Teil des waghalsigen Unternehmens gelingt, doch auf der Rückfahrt stürzt das Gefährt am 25. Mai über dem Eis des Nordpolarmeers nordöstlich der Inselgruppe von Spitzbergen ab. Dabei werden die beiden Gondeln des Luftschiffs abgerissen. Der Ballonkörper mit sechs Mann an Bord verschwindet auf Nimmerwiedersehen im Sturm. Zurück bleiben in den Trümmern der Passagiergondel Nobile und acht Männer. Ihre Lage ist verzweifelt, denn sie sind in einer eisigen Einöde gestrandet - und da der Sommer naht, beginnt dieses Eis unter ihren Füßen aufzubrechen.

Das Land ist fern und das Eis dreht sich von ihm fort. Trotzdem versuchen drei verzweifelte Männer auf dem Fußweg Hilfe zu holen. Die Zurückbleibenden klammern sich an ihre letzte Hoffnung: Ein leistungsschwaches Funkgerät hat den Absturz überstanden. Nach bangen Tagen wird der Hilferuf gehört.

Die größte Rettungsaktion der Polargeschichte beginnt. Zuletzt sind fast zwanzig Schiffe, Hundeschlitten und zwei Dutzend Flugzeuge zu Wasser, zu Lande und in der Luft unterwegs. Unter ihnen ist ein französisches Wasserflugboot und an Bord ein norwegischer Nationalheld: Roald Amundsen, der 1911 als erster Mensch den Südpol erreicht hat.

Der gealterte Entdecker hat sich aufgrund seines schroffen Wesens viele Feinde gemacht. Er ist verschuldet und krank, aber entschlossen, sich noch einmal als der Polar-Spezialist zurückzumelden, Nobile auf dem Eis zu entdecken oder sogar zu retten. Die Besatzung weiß wenig von den Tücken des Hohen Nordens und das Flugzeug ist ein Prototyp. Hartnäckig zieht Amundsen seinen Plan durch - und verschwindet am 18. Juni 1928, während Nobile und die meisten seiner Schicksalsgefährten nach dramatischen Wochen geborgen werden.

Ein nie gelöstes Rätsel

Was ist mit dem Flugboot der Marke „Latham“ und seiner sechsköpfigen Besatzung geschehen? Seit Jahrzehnten wird über dieses Rätsel gegrübelt, doch gelüftet werden konnte es nie; die Indizienlage ist zu mager, und die Region, in der das Unglück geschah, auch heute noch abgelegen, gefährlich und riesig.

Monica Kristensen unternimmt den Versuch, die Spuren auf der Basis bekannter und aktueller Erkenntnisse neu auszuwerten und zu deuten. Sie legt Wert auf die Feststellung, dass auch sie keine letzte Gewissheit geben kann. Die schlüssigsten Interpretationen werden sorgfältig begründet vorgelegt, wobei sich Kristensen mit Fachleuten beraten hat. Derzeit dürfte ihr Werk deshalb der Weisheit letzter Schluss zum Thema darstellen.

Weil schon vor der Lektüre feststeht, dass es keine echte Auflösung geben wird, stellt sich die Frage, wieso man ein so dickes Buch lesen sollte. Die Antwort ist einfach: Weil diese Geschichte - obwohl in großen Teilen bekannt und oft erzählt - trotzdem fasziniert sowie von der Verfasserin spannend präsentiert wird. Man merkt durchaus, dass Kristensen nicht nur Sachbücher, sondern auch Kriminalromane schreibt, und die historischen Tatsachen geben durchaus eine Vorlage für ein Mystery-Garn ab. Dass Kristensen - auch ausgebildete Naturwissenschaftlerin - dennoch dicht an den Fakten bleibt, erhöht die Qualität dieser Dokumentation beträchtlich.

Die Wahrheit hinter dem Mythos

Geschichten von Helden erweisen sich bei nüchterner Betrachtung in der Regel als Sagen. Das sollte nicht überraschen, denn auch oder gerade Helden sind Menschen und sind deshalb nicht unfehlbar. Folgerichtig reiht sich Roald Amundsen (1872-1928) ein. Er war ein energischer Mann; kein Forscher, sondern ein Entdecker, der in einer lebensfeindlichen Umgebung überleben konnte und kein Problem hatte, harte Entscheidungen zu treffen. So wurde Amundsen als „Bezwinger des Südpols“ zur Legende; er leistete aber auch in Nordpolnähe Bemerkenswertes.

Doch in den 1920er Jahren lief Amundsens Zeit ab. Expeditionen waren keine Kommandounternehmen mehr. Außerdem musste man die Medien berücksichtigen und für die eigene Sache werben. Dies war nicht Amundsens Weg. Auch Diplomatie war ihm fremd, sodass er 1928 ein Held außer Dienst war und im Rahmen der öffentlichen Rettungsmaßnahmen für Nobile nicht berücksichtigt wurde; für Amundsen ein Affront, der ihn einen Alleingang wagen ließ, der - so macht es Kristensen deutlich - weder klug noch notwendig war: Um Spitzbergen wimmelte es quasi von Rettern, die meist besser vorbereitet und ausgerüstet waren als Amundsens Team in einem für das Klima nur bedingt tauglichen Flugboot.

Kristensen entwirft ein informationsreiches Panorama, indem sie die Rettung der Nobile-Expedition in ein politisches Umfeld stellt, das von überbordendem Nationalismus geprägt wurde. In Italien betrachtete der Diktator Mussolini Nobiles Scheitern als Schande; am liebsten hätte er den ‚Versager‘ sterben lassen. Die Norweger nutzten die Rettung als Werbung für ihre Polartüchtigkeit: Der hohe Norden bot Bodenschätze und Fischreichtum, weshalb es sich lohnte, auf dem Scheitel der Erde Präsenz zu zeigen. Da außerdem Geld demjenigen winkte, der die Verschollenen fand, mischen sich auch andere Nationen unter die Retter. Das Ergebnis war ein oft kontraproduktives Durcheinander, das Kristensen objektiv aufdröselt.

Helden ehrt man, aber Spezialisten überleben den Job

Das Drama der Nobile-Expedition ist schon oft dargestellt worden. Es nimmt trotzdem in Kristensens Buch viele Kapitel ein, weil es den Auslöser und Rahmen für „Amundsens letzte Reise“ darstellte. Die Autorin betont immer die Verbindung zwischen Nobile und Amundsen - die sich kannten, aber keineswegs schätzten und bereits 1926 eine erfolgreiche Luftschifffahrt zum Nordpol unternommen hatten - und stellt die Katastrophe von 1928 mit ihrer Vorgeschichte in den historischen Zusammenhang.

Amundsen wird zur beinahe tragischen Gestalt, ohne dass Kristensen die Halsstarrigkeit dieses Mannes unterschlägt. Gleichzeitig räumt sie mit einem alten Märchen auf: Der alternde, kranke Amundsens habe den Tod in der geliebten Eisregion gesucht und gar nicht wirklich nach Nobile gesucht. Dem stellt Kristensen glaubhaft die Beweise für eine Lebensplanung gegenüber, die keineswegs auf eine Todessehnsucht hinweisen.

Was im Juni 1928 tatsächlich geschah, ist womöglich nicht so rätselhaft wie gern und oft behauptet. Es gibt Hinweise auf das Schicksal der „Latham“ und ihrer Besatzung. Hier wagt sich Kristensen auf dünnes Eis, ohne jedoch den festen Boden fixierter Indizien zu verlassen. Schon recht bald stand fest, dass es für Amundsen keinen ‚sauberen‘ Tod gegeben hat. Der Absturz war eine Notlandung, und die Crew der „Latham“ hat um ihr Leben gekämpft; dies womöglich noch lange, nachdem jede Suche aufgegeben wurde.

Fazit:

Sorgfältig recherchiertes und ausgezeichnet geschriebenes Sachbuch, das eine faszinierende Geschichte erzählt, diese im historischen Umfeld verortet und plausible Lösungen eines Rätsels präsentiert, ohne darüber die schüttere Faktenlage zu ignorieren: Wer wagt es zu behaupten, Geschichte sei langweilig?

Amundsens letzte Reise

Monica Kristensen, btb

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