Gesucht, gefunden & als Duo exponentiell wertvoll.
„Hinter jedem starken Mann steht eine starke Frau“: Das Sprichwort mag alt sein, doch gerade in der Gegenwart wird es öfter als früher verwendet. Obwohl die Nähe zur gefürchteten Binsenweisheit groß ist, springt es irritierend aus dem Hirn auf, wenn man ein Foto von Alfred und Alma Hitchcock betrachtet: Neben dem beinahe einen halben Meter größeren und das Dreifache ihres ‚Gewichts‘ auf die Waage bringenden Gatten wirkt sie erst recht winzig.
Von ihrer Gestalt und einer gewollten Distanz zur Öffentlichkeit, die Alma anders als Alfred weder schätzte noch benötigte, ließen sich Biografen lange täuschen. Das erleichterte es ihnen, Alfred als Solo-Genie hinter ‚seinem‘ imposanten Werk zu orten. Ein halbes Jahrhundert hat er demnach im Alleingang die Film- und Fernsehwelt bzw. den Thriller immer wieder mit Einfällen bereichert, die zum klassischen Wortschatz des Genres gehören.
Tatsächlich hat Hitchcock sich der Medien bedient, indem er eine Kunstfigur schuf, die diese gern als skurriles Symbol aufgriff und instrumentalisierte: den dicken Mann im schwarzen Anzug als Urbild des Korrekten und Gediegenen, der mit unbewegter Miene von ungeheuerlichen Übeltaten erzählte. Er machte jedoch nie einen Hehl aus der zentralen Bedeutung, die „Madame“ und ihre Mitarbeit für sein Werk besaß. Alfred hörte nicht nur auf Alma; sie war es, die ihn erst förderte und später unterstützte, während er Film auf Film drehte.
Dass sich darunter manches Meisterstück findet, ist eben auch Almas Verdienst, was ihre oft sehr detaillierten und in die Tiefe gehenden Anmerkungen zu Drehbüchern verraten. Auch das scheinbar schon fertige/perfekte Filmwerk musterte sie scharf; Hitchcock liebte jene Anekdote, nach der „Psycho“ noch einmal in die Bearbeitung zurückkehrte, weil nur Alma während der Testvorführung bemerkt hatte, dass die grausam unter der Dusche gemeuchelte Janet Leigh noch atmete.
Die jeweilige Art der Betrachtung
Für den Biografen ist der Blickwinkel von elementarer Bedeutung. Gerade Alfred Hitchcock liefert - unfreiwillig - ein eindringliches Beispiel. 1983 legte Donald Spoto (1941-2023) mit „The Dark Side of Genius“ (dt. „Die dunkle Seite des Genies“) eine Biografie vor, die sich auf Hitchcocks angebliche, umgehend für ‚wahr‘ erklärte Obsession für einige seiner Darstellerinnen konzentrierte. Drei Jahre nach dem Tod des Regisseurs behauptete Spoto das Feld für sich und schuf jenes Schattenbild, das Hitchcock als übergriffigen, schmutzigen, alten (und natürlich weißen) Mann zeigte.
Falls es diese Seite gab, muss sie im Rahmen einer Biografie zur Sprache kommen. Dass Spoto jedoch zu weit ging und Hitchcocks keineswegs sicher belegtes Fehlverhalten reißerisch als Folie über dessen gesamtes Leben legte, zeigt die hier vorgestellte Doppel-Biografie, mit der Thilo Wydra eine ungleich komplexere Wahrheit enthüllt und dabei den Quellen größeres Gewicht zubilligt als dem Gerücht, auch wenn dies im Widerspruch zu jenen Anschuldigungen steht, die in erster Linie Tippi Hedren, Hauptdarstellerin in „Die Vögel“ und „Marnie“, geäußert hat.
Was trifft zu? Die Frage bleibt unbeantwortet. Solange keine neuen bzw. eindeutigen Belege für oder gegen Hitchcock auftauchen, ist Objektivität angesagt. Wydra legt sie an den Tag, hat sich aber auch entschieden: Er sieht Hitchcocks Unschuld, was nebenbei beweist, dass keine Biografie ungeachtet der zu Rate gezogenen Quellen objektiv ist. Fakten sind lückenhaft und bieten in der Regel einen Spielraum für Interpretationen. ‚Sensationelle‘ Enthüllungen = unterhaltsame Schmuddel-Details darf man von diesem Buch nicht erwarten: Der Autor fand in dieser Hinsicht nichts Stichhaltiges; man vermisst es übrigens nie, die Fakten sind interessant genug.
Doppel-A im Einklang
„Alma & Alfred Hitchcock“ - man beachte die Reihenfolge - ist keine aus x-fach bekannten Sachbüchern zusammengeschusterte und mit Fotos auf Seitenstärke gebrachte ‚Star-Biografie‘, sondern das Ergebnis ausgiebiger Recherche. Autor Wydra stützt sich zwar schwer auf bereits erschienene Sekundärliteratur, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel. Viele dieser Texte wurden noch nicht ausgewertet; ungeachtet seiner filmhistorischen Relevanz ist Hitchcock eine Figur der Vergangenheit, weshalb zumindest hierzulande sehr lange keine Biografie mehr veröffentlicht wurde: Wissen die Jüngeren eigentlich noch, wer Hitchcock war, und haben sie seine Filme gesehen?
Darüber hinaus hat sich Wydra in die „Hitchcock Papers“ vertieft. Sie sammeln Alfreds und Almas schriftlichen Nachlass - eine wahre Flut einschlägiger, oft ungehobener Informationen, deren Gesamtauswertung noch auf sich warten lässt. Der Autor konnte außerdem zwei der Enkeltöchter der Hitchcocks befragen. Zudem gab Patricia Hitchcock, die einzige Tochter des Paares, zeit ihres Lebens bereitwillig Auskunft über die Eltern, bevor sie 2021 im Alter von 93 Jahren starb. Die Unmittelbarkeit solcher Informationen fügen sich zu einem nicht unbedingt neuen, aber ausgewogenen Bild. Dass Alfred ohne Alma kaum denkbar war, wussten alle, die beide kannten. Auch in der Filmhistorie ist Almas Rolle durchaus bekannt. Wydra rennt dennoch keine offene Tür ein. Er stellt Alma und Alfred gleichberechtigt nebeneinander. Dabei idealisiert er das Duo nicht oder verschmilzt es gar zu einer ‚idealen‘ Einheit; die Hitchcocks hatten wie jedes Paar Höhen und Tiefen, und das Ende war ohnehin nicht happy, sondern wurde durch moribunden Verfall geprägt und entzaubert; ein trauriges Kapitel, das Wydra ebenfalls thematisiert.
Dass die Hitchcocks privat sehr familiäre Menschen waren und der in der Öffentlichkeit so kontrollierte Alfred sogar albern werden konnte, macht Wydra deutlich, indem er nicht nur inhaltsstarke Texte aufspürte, sondern auch viel Mühe in die Auswahl des begleitenden Fotomaterials investierte. Es existieren erstaunlich viele Bilder der ‚privaten‘ Hitchcocks; Alfred und Alma haben das Familienleben selbst ausgiebig mit Kamera und Fotoapparat dokumentiert. Da ein Bild bekanntlich mehr als tausend Worte sagt (oder sagen kann), runden diese Abbildungen ein jederzeit lesenswertes Werk ab.
Fazit
Mehr als vier Jahrzehnte nach seinem Tod entschwindet Alfred Hitchcock allmählich im Nebel der Filmgeschichte. Diese kundige Biografie erinnert nicht nur an das Werk, sondern auch an dessen Schöpfer - und an Alma Hitchcock, die endgültig offiziell an Alfreds Seite rückt. Ihr Beitrag war elementar für einen bemerkenswerten Schaffensprozess. Dies schließt den Blick auf die Hitchcocks außerhalb des Studios ein: sorgfältige, den aktuellen Wissensstand widerspiegelnde, gut strukturierte und geschriebene, informative und unterhaltsame Doppel-Biografie.
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