1870/71: Der Mythos von der deutschen Einheit
- C.Bertelsmann
- Erschienen: Mai 2020
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Die preußische Militär-Maschine und die Einheit der Nation
Es ist schon ein ziemlich spannender Ansatz, die Frage der deutschen Einheit nach der Gründung des neuen Kaiserreichs an neun Tagen zwischen 1866 und 1871 festzumachen. Wobei Tillmann Bendikowski natürlich nicht nur einzelne Tage schildert, sondern daran jeweils eine Entwicklung aufrollt, die zu den Ereignissen dieses Tages geführt haben oder darüber hinaus wirken. Ein solcher Tag ist der 30. Juni 1866, an dem Georg V. von Hannover im “Schloss Fröhliche Wiederkunft” angekommen ist und einen Brief an seine Frau diktiert. Der Krieg zwischen dem übermächtigen Preußen und den Hannoveranern hat ganze zwei Wochen gedauert. Der blinde König und seine Armee waren nicht im Ansatz auf einen solchen Krieg vorbereitet. Die Forderung der Preußen, eine unbewaffnete Neutralität im Streit mit dem Deutschen Bund einzunehmen, hat Georg in Verkennung der realen Lage brüsk abgelehnt.
"Georg V. pocht als souveräner Herrscher auf seine Militärhoheit. Er lässt sich von Preußen nicht sagen, was er zu tun hat. Er wolle lieber “mit Ehren untergehen” erklärt er, als sein weiteres Schicksal von der Gnade Preußens abhängig zu machen."
Bendikowski macht deutlich, dass Preußen mit seinem Krieg gegen Hannover, Sachsen, Österreich und andere nicht nur den Deutschen Bund aufgelöst, sondern vor allem seine Vormachtstellung in Deutschland zementiert hat. Und das im Sinne der deutschen Einheit? Daran werden berechtigte Zweifel laut. Aber die Ereignisse von 1866 zeigen sich als wichtiger Meilenstein der späteren Reichsgründung.
Der zweite Tag, den der Autor schildert, ist der 18. Mai 1868. Auf den Tag genau 20 Jahre nach dem Einzug der Abgeordneten in die Frankfurter Paulskirche tritt in Berlin das Zollparlament zusammen. Gebildet aus 297 Reichstagsabgeordneten des Norddeutschen Bundes, sowie 85 Abgeordneten aus Bayern, Baden, Württemberg und anderen süddeutschen Ländern. Das wirkt zunächst unspektakulär, aber dieser weitere Trittstein zur Vereinigung Deutschlands unter preußischer Vorherrschaft wird von Bendikowski hervorragend aufgearbeitet. Es geht den Abgeordneten aus den Ländern außerhalb des Norddeutschen Bundes um ihre Partikularinteressen, um ein Ankämpfen gegen die Vorherrschaft der schier übermächtigen Preußen unter ihren Kanzler Bismarck. Bei der Lektüre fühlt man sich zuweilen an die Förderalismus-Diskussionen der Gegenwart erinnert, wo die Bundesländer auch energisch um ihre Zuständigkeiten kämpfen - nicht nur in Zeiten der Corona-Pandemie. Ein in meinen Augen wirklich interessantes Zwischenkapitel.
Die berühmte Depesche aus Ems
Zum 13. Juli 1870 schreibt Tillmann Bendikowski, die Geschichte dieses Tages sei zu schön, um sie nicht zu erzählen - auch wenn sich vieles in entscheidenden Passagen nicht mit der historischen Wahrheit deckt. Die berühmte Depesche des preußischen Königs aus Ems, von seinem Kanzler geschickt verkürzt und dann publiziert, diente als Auslöser eines Krieges. Den zu führen hatten Otto von Bismarck, Kriegsminister Albrecht von Roon und Generalstabschef Helmuth von Moltke am Vorabend in Berlin bereits beschlossen. Bendikowski schildert anschaulich, wie der preußische Monarch und die Weltöffentlichkeit manipuliert wurden, um diesen Krieg führen zu können. Der Begriff “Fake News” wurde viel später geprägt, hätte damals aber bereits gut gepasst.
Der “Sedantag” wurde in Deutschland bis zum ersten Weltkrieg mit viel Getöse und militärischem Zeremoniell alljährlich gefeiert. Es war der Jahrestag des 2. September 1870, an dem die - in der Rückbetrachtung entscheidende - Schlacht zwischen Frankreich und Deutschland stattfand. In diesem Kapitel schildert der Autor anschaulich, wie der militärische Verlauf des Krieges war, die zwischenzeitlich aufkommenden Zweifel in den beteiligten deutschen Ländern, die Debatten in Presse und Öffentlichkeit. Frankreich kapitulierte erst deutlich später, nachdem die Deutschen tagelang Paris intensiv beschossen hatten.
"Der Sieg von Sedan und die Hoffnung auf eine baldige Reichsgründung lassen kaum Zweifel daran, dass Gott auf der Seite der Preußen ist. Und der preußische König persönlich wird mehr als einmal als “das Werkzeug in der Hand der göttlichen Vorsehung” bezeichnet. Sedan gilt als Beleg: Gott hat tatsächlich eingegriffen, und eine große Geschichte scheint sich nun zu erfüllen - zumindest aus Sicht der preußischen Patrioten."
Es geht weiter mit dem Tag des Kaiserbriefs, in dem Ludwig II., König von Bayern, dem preußischen Herrscher die deutsche Kaiserwürde anträgt. Weihnachten 1870, die Kaiserkrönung in Versaille am 18. Januar 1871, die Eröffnung des ersten Reichstags am 21. März 1871 und schließlich der 16. Juni 1871, der Tag der großen Siegesparade in Berlin, runden die Reihe der bedeutsamen Tage in diesem Buch ab.
Tillmann Bendikowski schildert in seinem sehr lesenswerten Buch nicht nur die Chronologie der Vorgeschichte der Reichsgründung und die unmittelbare Zeit danach, sondern er geht vor allem auf die kaum enden wollenden Diskussionen um diese Reichsgründung ein. In den Parlamenten der deutschen Teilstaaten, vor allem in Bayern, Württemberg, Baden und Hessen, wird heftig um das Thema gerungen, und auch die jeweiligen Könige und Herzöge ringen mit sich und ihrem politischen Schicksal. Der Kernvorwurf, der allen Skeptikern aus Preußen entgegenschallt, ist der des Partikularismus. Irgendwie wollen alle die wirtschaftliche Einheit, vielleicht auch etwas mehr, aber nicht unter preußischer Vorherrschaft. Die Angst vor weiteren Kriegen, nach den Waffengängen von 1864, 1866 und nun 1870/71 ist tatsächlich groß. Der Diktat-Frieden mit Frankreich, die Annexion von Elsaß und Lothringen, der preußische Militarismus - all das macht den Menschen, vor allem den gehobenen Klassen im Süden Deutschlands Angst, und regt zu Widerstand an.
In seinem Schlusskapitel “In der Vitrine der Erinnerung” macht der Autor reinen Tisch mit dem, was er den Mythos von der deutschen Einheit nennt. Ich werde hier nicht spoilern, aber Bendikowskis Argumentation ist schlüssig, und seine Anmerkungen klingen bestechend logisch. Das Schlusskapitel ist keine normale Zusammenfassung, sondern er spitzt etlichen Thesen nochmals zu.
Fazit:
Fakten und Augenzeugenberichte für dieses Werk sind akribisch recherchiert, Tillmann Bendikowski nutzt vor allem Zeitungen und veröffentlichte Tagebücher sowie die Werke von Kollegen als Quellen. Das Buch ist sehr lesenswert geschrieben und für historisch interessierte Leser nicht nur informativ, sondern auch unterhaltsam. Man lernt dort viele Dinge, die man so im Zusammenhang möglicherweis noch nicht wusste. Die Darstellung eines geschichtlichen Abschnitts anhand einzelner bedeutsamer Tage hat mir mehr als gut gefallen.
Tillman Bendikowski, C.Bertelsmann
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