Gunnar Decker

Im Siedler Verlag erscheint nun - beinahe hundert Jahre nach dessen Tod - eine lohnenswerte Biografie über einen der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker des frühen 20. Jahrhunderts: Rainer Maria Rilke. Der promovierte Philosoph, Buchautor und Film- bzw. Theaterkritiker Gunnar Decker veröffentlichte bereits vielfach gelobte Biografien, u.a. zu Hermann Hesse, Gottfried Benn, Franz Fühmann und Ernst Barlach. 2016 wurde er mit dem von der Berliner Akademie der Künste verliehenen Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet.

Sachbuch-Couch-Redakteur Thomas Gisbertz sprach mit Gunnar Decker über die Arbeit an seiner aktuellen Biografie „Rilke - Der ferne Magier“, das Faszinierende am österreichischen Lyriker und sein Verhältnis zu Rilke.

Seine Würde behält derjenige, über den man schreibt, wenn man dieses Leben als Preis für sein Werk begreift.

Sachbuch-Couch:
Herr Decker, wenn man sich wie Sie lange bei der Vorbereitung der Biografie mit einer Person beschäftigt, Briefe und Texte von ihr liest, wie nah kommt man dabei dem Menschen Rainer Maria Rilke?

Gunnar Decker:
Einerseits kommt man ihm sehr nahe, fast unerlaubt nahe, wenn man privateste Briefe und Aufzeichnungen liest. Darin sind auch sehr intime Auskünfte enthalten, etwa über seine Hassliebe zur Mutter, sein Unverhältnis zum Geld oder auch dezidierte Thematisierungen seiner Sexualität. Seiner lebenslang engsten Vertrauten, auch nach Ende ihrer Liebesbeziehung, Lou Andreas-Salomé, etwa vertraut er noch kurz vor seinem Tod (er hatte eine unheilbare Leukämie) an, sein schlechter Zustand resultiere wohl aus einer notorischen "Selbstreizung" - sprich Masturbation. Und die lebenserfahrene Psychotherapeutin beruhigt ihn dann, da spreche der kleine katholische Junge aus ihm. Das sind natürlich Informationen über einen Menschen, mit denen man behutsam umgehen muss. Aber natürlich gehören sie zum Gesamtbild. Übrigens hat Rilke, dieser unbehauste Mensch, der so oft in seinem Leben umzog, seine vielen tausend Briefe minutiös archiviert (die meisten sind inzwischen veröffentlicht) und auch testamentarisch verfügt, er sehe diese seinem Werk zugehörig an und einer Veröffentlichung nach seinem Tod stehe nichts im Wege. Das ist eine wichtige Entscheidung von ihm: Er wollte aus seinem Leben kein Geheimnis machen, zumal diese Briefe so sorgsam wie druckfertige Manuskripte gearbeitet sind. Das dennoch bleibende Geheimnis - und nun komme ich zum andererseits - liegt auf einer anderen Ebene. In seiner Dichtung entbirgt und verbirgt er sich zugleich. Er ist darin kein bloßer Bekenner, sondern der Schöpfer einer von ihm selbst präzise formulierten Gegenwelt aus Worten. An der arbeitet sich jeder Leser bis heute immer wieder neu ab, ohne an ein Ende zu kommen - das zeigt seine dichterische Größe. Seine Gestalt bleibt also in einer Nah-Ferne.  Darum habe ich das Buch auch "Der ferne Magier" genannt.   

Sachbuch-Couch:
Man muss sich nur die umfassende Bibliografie im Anhang des Buches anschauen, um einschätzen zu können, wie viel Sie über Rilke und dessen Werk sowie Leben gelesen haben. Nur ein Bruchteil dessen dürfte den Weg ins Buch finden. Wie schwer fällt es Ihnen, die richtige Auswahl zu treffen?

Gunnar Decker:
Zumal die insgesamt über fünfzig Briefbände, die ich verwendet habe, noch einmal nicht alle sind, die es gibt! Manche habe ich dann auch bewusst bei Seite gelassen, weil es keine ihm nahestehenden Menschen (meist natürlich Frauen) waren, mit denen sein Kontakt äußerlich blieb.  Aber die Fülle von Selbstauskünften ist schon erschlagend - wenn auch lesenswert, immer gut gearbeitete Literatur, bei der ich mich jedenfalls keinen Moment gelangweilt habe. Er versteht es, seine Leser, auch die der Nachwelt, in Bann zu ziehen. Das ist schon erstaunlich. Nun muss ich dazu sagen, dass ich vor zwanzig Jahren bereits ein Buch über "Rilkes Frauen" schrieb und einen Großteil seines Briefwechsels nun also zum wiederholten Male gelesen habe. Da fällt es leichter sich zu orientieren, auch vieles wegzulassen - wenn auch nicht unbedingt leichter darüber zu schreiben, wie ich bemerken musste. Meinen eigentlichen Anfang, die Beschreibung der Physiognomie Rilkes, hatte ich im ersten Buch bereits "verbraucht" und musste nun einen anderen Zugang finden, was nicht so leicht war. Dann bin ich mit Hölderlin auf das Motiv von "Hälfte des Lebens" gekommen - und so beginnt dann das Buch in dem Moment, als er 26 Jahre alt ist. Wie man anfängt ist ja keineswegs zweitrangig, denn alles weitere - auch der Ton - ergibt sich daraus.  

Sachbuch-Couch:
Ein großer Gewinn ist der richtige Ton, den Sie in Ihrer Rilke-Biografie treffen, um aus einer Mischung aus Fakten, Text- und Briefauszügen sowie Ihrer Darstellung ein faszinierendes Bild des Lyrikers zu schaffen, welches uns den Menschen Rilke sehr nahebringt. Was zeichnet in Ihren Augen einen guten Biografen aus?

Gunnar Decker:
In meinen Augen ist das jemand, der das Leben eines bedeutenden Menschen immer in Bezug auf sein Werk versteht. Denn solch ein Leben ist nicht Selbstzweck, sonst wäre es tatsächlich bloßer Voyeurismus, die alltäglichen, banalen oder auch abgründigen Seiten eines Menschen öffentlich zu machen. Seine Würde behält derjenige, über den man schreibt, wenn man dieses Leben als Preis für sein Werk begreift. Denn ohne solch einen Preis - an Leiden, aber auch an Verstellung, Fanatismus oder Opportunismus - wäre das Werk so nicht entstanden. Ein Dichter, der wirklich einer ist, schreibt immer auch um sein Überleben - in geistiger und seelischer, aber auch in materieller Hinsicht. Darum scheint es mir falsch, das Leben zu ignorieren und zu sagen, wir haben doch das Werk und das reicht. Hugo von Hofmannsthal hatte nach Rilkes Tod versucht, Rilkes Tochter Ruth in dieser Hinsicht zu beeinflussen, als er ihr schrieb: "Ich würde alles tun... diese vielen schalen und oft indiskreten Äußerungen über einen produktiven Menschen und seine Hervorbringungen, zu unterdrücken ... Mein Gedanke wäre... die Werke ganz allein diesen schweren Kampf aufnehmen zu lassen mit den feindseligen nächstfolgenden Dezennien."  Ich halte es da eher - wohlwissend, dass dies in der Germanistik ein heiß umkämpftes Terrain ist - mit Stefan Zweig, der sagte: "...eine dichterische Erscheinung ist niemals vollkommen erkennbar, wenn man nicht zugleich das Bildnis des Menschen erweckt." 

Sachbuch-Couch:
Sie selber haben bereits ein Buch über Rilkes besondere Beziehung zu Frauen geschrieben und Ihre Frau Kerstin einen Band über Lou Andreas-Salomé, einer ganz besonders wichtigen Person im Leben Rilkes. Haben Sie sich im Laufe des Entstehens der Biografie mit Ihrer Frau ausgetauscht?

Gunnar Decker:
Sie hat ja auch noch über Paula Modersohn-Becker und Frieda von Bülow geschrieben, die beide ebenfalls eine nicht geringe Rolle für Rilke spielten, das kommt noch erschwerend hinzu. Nein ernsthaft: Es ist schön, wenn man gemeinsame Themen hat, auf die man sich beziehen kann. Aber natürlich schreibt dann doch jeder für sich, aus seiner Sicht, da gibt es gar keinen Zwang zum Konformismus. Wir lesen alles voneinander, sind uns gegenseitig die ersten Lektoren. Nur, wenn meine Frau sagt: "Da liegst Du völlig falsch, das stimmt so nicht!", dann denke ich über diese Stelle noch mal neu nach. 

Sachbuch-Couch:
Sie „kannten“ Rilke - wie gesagt - bereits vor der aktuellen Biografie gut. Gibt es dennoch etwas, was Sie bei der Recherche zum Buch überrascht hat?

Gunnar Decker:
Wie sich in zwanzig Jahren einerseits die eigenen Perspektive verändert hat und andererseits bestimmte Grundwahrnehmungen von ihm bleiben. Gleichgeblieben ist das Befremden vor dem sich immer wiederholenden Egoismus Rilkes, über das In-Dienst-Stellen anderer für die eigenen Absichten. Neu ist eine gewisse Altersmilde, die ich bei mir feststelle, dass ich beginne, das zu verstehen. Seine Position ist: Ich habe der Welt bedeutende Dichtungen geschenkt, dafür musste ich mich zurückziehen, konnte keine Erwerbsnebenarbeiten ausführen. Das ist das Opfer, was ich der Kunst gebracht habe. Nun habe ich aber auch einen Anspruch darauf, dass vor allem die Reichen dieser Welt mir etwas dafür zurückgeben und für meinen Unterhalt zahlen. Inzwischen bringe ich mehr Verständnis für diese Haltung auf, wenn auch nicht für jede der damit verbundenen Attitüden.  Neu ist auch - das ist sicher durch Corona bedingt -, dass ich seine Krankheiten ernster nehme, besonders am Ende des Lebens. Er litt zudem phasenweise unter dem, was man heute Angststörungen nennt. Wenn er kurz vor seinem Tod im Dezember 1926 sagt, er könne den Tag genau benennen, im Spätherbst 1923, wo er (nach einer eigentlich überstandenen Grippe), von einer Minute auf die andere, nicht mehr der gewesen sei, der er bis dahin war, dann stimmt mich das sehr nachdenklich.    

Sachbuch-Couch:
Über Rilke gibt es zahlreiche Biografien. Warum haben Sie eine weitere über ihn geschrieben? Fanden Sie das Bild Rilkes in den anderen nicht ausreichend dargestellt oder wollten Sie sich ihm auf eine andere Art nähern?

Gunnar Decker:
Es gibt zweifellos bereits sehr gute Biografien, etwa die zweibändige von Ralph Freedman, oder auch die von Wolfgang Leppmann und die von Donald Prater, die sehr schätze. Aber das sind Bücher aus den 1980er/90er Jahren. Seitdem sind nicht nur neue Dokumente erschlossen worden wie die zweibändige Ausgabe der Briefe Rilkes an seine Mutter zeigt, sondern auch der Fokus auf ihn hat sich natürlich verschoben. Etwa, wenn es um die Wertung seiner Rolle in der Münchner Räterepublik geht, seine rigorose Ablehnung alles Deutschen nach deren Niederschlagung. Seine Flucht aus München in die Schweiz, die er nicht Flucht genannt wissen wollte, obwohl sie es natürlich war und seine Einübung ins Französische, das ist etwas, was mir besonders am Herzen lag. Das wollte ich deutlicher machen als es bisher geschah.    

Sachbuch-Couch:
Einmal angenommen, Sie könnten Rilke etwas zu seinem Leben fragen, um vielleicht eine Lücke in seiner Biografie zu schließen, auf die Sie keine ausreichende Antwort haben: Welche Frage wäre das und warum?

Gunnar Decker:
Rilke war niemand, dem man diskursiv zu Leibe rücken konnte. Er war sehr monologisch, was ja auch seine Dichtung prägt. Was er von sich preisgab, das wollte er preisgeben. Insofern stände ich mit meinen offenen Fragen da wohl auf ziemlich verlorenem Posten. Aber es gibt einiges, was mich auch nach dem Schreiben des Buches weiter umtreibt. Etwa, warum er seine Frau Clara, mit der er bis zu seinem Tode verheiratet blieb (es gab zaghafte Versuche eine Scheidung zu erwägen, aber diese unterblieb schließlich), nicht zu sich ließ, als sie Ende 1926, als er im Sterben lag, zu ihm in die Schweiz reiste. Sie hat sich ihm gegenüber immer loyal verhalten, er ihr gegenüber nicht immer. Sie war eine durchaus beachtliche Bildhauerin, die bis zu ihrem Tod 1954 künstlerisch aktiv blieb und 1906 eine Büste von Rilke schuf, die erstaunlich ist. Warum erwies sich Rilke, der sonst für bildende Kunst einen sicheren Instinkt hatte, dafür als so blind?     

Das Interview führte Thomas Gisbertz im Noevember 2023.

Foto von Gunnar Decker
©privat

 

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